Wirtschaft

Der Fall Nvidia: Künstliche Marktblasen dank Künstlicher Intelligenz?

Nvidia ist der neue König unter den Technik-Giganten. Sein Wachstum scheint die Erfolgsgeschichte der Künstlichen Intelligenz als kritische Domäne der nahen Zukunft zu bestätigen. Wo aber beginnt der Hype, wo die Überschätzung? Und besteht die Gefahr eines Crashs?
Der Fall Nvidia: Künstliche Marktblasen dank Künstlicher Intelligenz?Quelle: Gettyimages.ru © Jakub Porzycki/NurPhoto

Von Elem Chintsky

Die Neuigkeit über den Beitrag des Grafikkarten- und KI-Hardware-Herstellers Nvidia Corporation zur kürzlichen Aktien-Rallye erfüllte den globalen Finanzmarkt und den internationalen Handel mit großer Zuversicht.

Wie aber in geopolitischen Entwicklungen, die zu Kriegen führen, so birgt auch bei euphorischen Höhen wirtschaftlicher Prozesse erst der historische Kontext das nötige Kleingedruckte – für eine besonnene Sichtweise. Schon vor über zwei Jahren berichtete RT DE über das Risiko einer sogenannten "Superblase" auf den internationalen Finanzmärkten – der Fall Nvidia könnte deren jüngste Ausweitung illustrieren.

Zur Erinnerung: Nvidia hat an einem einzigen Tag 277 Milliarden US-Dollar zugelegt. Dies ist der größte Anstieg der Kapitalisierung eines einzelnen Unternehmens an einem Tag in der gesamten Geschichte des weltweiten Handels. Zum Vergleich sei der bisherige Rekord von Mark Zuckerbergs Meta genannt – 197 Milliarden US-Dollar am 2. Februar 2022 bei einem Handelsumsatz von über 66 Milliarden US-Dollar.

Der grandiose, extravagante, schwindelerregende und geradezu unvorstellbare Wahnsinn, der in der spekulativen KI-Rallye zum Ausdruck kommt, hat historische Entsprechungen, aber sie sind in ihrem Ausmaß deutlich bescheidener.

Jedes Mal, wenn solche Rallyes wüten, gibt es eine "grundlegende Rechtfertigung" für die Ausweitung der Blase. Der wichtigste Schritt ist, die Angelegenheit gar nicht erst "Blase" zu nennen. Indem man diese negative Konnotation auslässt, sorgt man dafür, dass der Hoffnung des "ewigen Wachstums" erneut keine Grenzen gesetzt sind. Bis schließlich doch eine gewisse Grenze auftaucht und alle überrascht.

Geschichte, die begeistert … und warnt

In den Jahren 1924 bis 1929 war die technologische Revolution in der Automobilindustrie die "grundlegende Rechtfertigung" für den damals steilen Aufwärtstrend der Märkte. Diese aktive Industrialisierung war zudem gekennzeichnet von der Einführung von ersten Industrieclustern, der Entwicklung der Öl- und Gasdomäne sowie des Hüttenwesens. Weitere Begleiterscheinungen waren die Entwicklung des Telegrafen, das Aufkommen des Radios, das massenhafte Auftreten von Bauunternehmen, die wiederum den Boom des Gewerbe- und Wohnimmobilienmarktes verursachten.

In den Jahren von 1995 bis 2000 war das fundamentale Leitmotiv der Märkte die massive Digitalisierung. Dazu gehörten das Aufkommen des PCs, das kommerzielle Internet, mobile Kommunikation in der Industrie, Wirtschaft, Logistik, in den Behörden und zwischen Privatpersonen sowie der heute allgegenwärtige Server-Standard, ohne den kein modernes Unternehmen mehr existieren kann. In den 1990er-Jahren erlebte der IT-Sektor einen nahezu exponentiellen Aufschwung, bei dem gänzlich neue Wirtschaftszweige entstanden, die direkt oder indirekt mit der IT-Branche verbunden waren. Firmen wie Google, Microsoft, Amazon und Apple, aber auch die 1993 gegründete Nvidia Corporation entstanden rasch nacheinander.

In beiden Fällen fand der Börsenaufschwung vor dem Hintergrund eines herausragenden wirtschaftlichen Erfolgs statt. Erneut waren die "grundlegende Rechtfertigung" für die Euphorie auf den Märkten und schnell wachsende Firmenwerte gegeben.

Das kumulierte Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von 1924 bis 1929 betrug circa 32,6 Prozent. Für die Zeit von 1995 bis 2000 erreichte es fast 27 Prozent. Daraus kann man schlussfolgern, dass die durchschnittliche jährliche BIP-Wachstumsrate in den 1920er-Jahren bei 4,8 Prozent lag – in den späten 1990er-Jahren bei rund 4,1 Prozent. Der Staatshaushalt war ausgeglichen, während die Finanzkraft der Unternehmen zunahm und die Einkommen privater Haushalte stiegen. Die Wirtschaft funktionierte vorbildlich und führte nicht zu politischen Kontroversen, da das reale Wirtschaftswachstum höher war als die Wachstumsrate der Schulden. In den fünf Jahren bis zum Höchststand im September 1929 wuchs der Markt um das 3,6-Fache. Im Vergleichszeitraum in den 1990er-Jahren wuchs der Markt um das 3,4-Fache. Letzteres ging als die berüchtigte "Dotcom-Blase" in die Geschichte ein, die heftig anschwoll und dann platzte.

Demnach hätte das durchschnittliche jährliche Wachstum in den 1920er-Jahren bei 29,2 Prozent und in den 1990er-Jahren bei 27,8 Prozent gelegen.

In Geldwerten ausgedrückt stieg die Kapitalisierung im September 1929 um etwa 94 Milliarden US-Dollar. Auf ihrem Höhepunkt waren es fast 130 Milliarden US-Dollar für alle börsennotierten Aktien – wobei im März 2000 die Marktkapitalisierung etwa 16 Billionen US-Dollar, mit einem Anstieg von fast elf Billionen US-Dollar innerhalb von fünf Jahren, betrug. Bei diesem Vergleich muss natürlich auch auf die rasante Geldentwertungsrate innerhalb eines ganzen Jahrhunderts geachtet werden.

Von September 1929 bis Februar 2024 stiegen die Preise fast um das 14-Fache. Was heißt das? Zu den Preisen von Februar 2024 betrug der Kapitalisierungsgewinn zwischen 1925 und 1929 nur 1,3 Billionen US-Dollar, und von März 2000 bis Februar 2024 stiegen die Preise um fast 72 Prozent. Inflationsbereinigt brachte die Dotcom-Blase in den Jahren 1995 bis 2000 also 19 Billionen US-Dollar ein.

Im letzten messbaren Quartal mit dem Tiefststand vom 27. Oktober 2023 bis zum Höchststand am 22. Februar 2024 stieg die Marktkapitalisierung um ganze zehn Billionen US-Dollar, während die Kapitalisierungsgewinne in der Rallye von 1925 bis 1929 zu Preisen vom Februar 2024 durchschnittlich 90 Milliarden US-Dollar pro Quartal betrugen und die Dotcom-Blase eine durchschnittliche Intensität von 1,3 Billionen US-Dollar pro Quartal aufwies.

Aus den oberen Überlegungen ist der erste große Schluss, dass die im vergangenen Februar von Nvidia euphorisch angeführte Aktienrallye der Künstlichen Intelligenz – inflationsbereinigt – mehr als siebenmal so heftig war wie die Dotcom-Rallye von vor einem Vierteljahrhundert.

An nur einem Tag – am 22. Februar – stieg die gesamte Marktkapitalisierung um 1,1 Billionen US-Dollar, wobei Nvidias Anteil 277 Milliarden US-Dollar betrug. Das ist knapp über ein Viertel an Eigenbeteiligung einer einzigen Firma.

Einen größeren Anstieg der Marktkapitalisierung gab es zuletzt am 1. Dezember 2022 mit 1,2 Billionen US-Dollar. Allerdings sei dabei angemerkt, dass dies nach einem lang anhaltenden wirtschaftlichen Rückgang während des gesamten Jahres 2022 und der epochalen Coronakrise als Ganzes geschah.

Somit hat noch nie in der Geschichte des internationalen Handels der Markt an einem Tag mehr als eine Billion US-Dollar an Kapitalisierung zugelegt, während er sich auf einem ohnehin bereits außerordentlichen Hoch befand. Zuvor war dies nur möglich im Kontext einer Erholung, wenn vorher ein wirtschaftliches Tief oder ein Börsenkrach stattgefunden hatte.

Warum erneut das Angstgerede von "Finanzblasen"?

Die Muster, die immer wieder auftauchen, drängen sich auf.

Ein Blasen-Szenario verläuft, grob gesagt, meist entlang der immer gleichen Eckpfeiler. Ein öffentlichkeitswirksamer Faktor betritt den freien Markt und die kollektive Aufmerksamkeit aller seiner Teilnehmer – wie in den genannten Beispielen – sorgt für eine technologische Revolution und die entsprechende Aufregung. Darauf folgt eine dramatische Verstärkung des Hypes und der Massenbeteiligung, gespeist von einem gesteigerten Gefühl des Optimismus und des Glaubens an eine strahlende Zukunft.

Diese Euphorie verliert sich in der Unfähigkeit innerhalb des Missverhältnisses zwischen Erwartungen und Realität, vernünftige und besonnene Anlage-Entscheidungen zu fällen. Das gilt auch noch, wenn empirisch gesehen die Absorptionsrate von Einkommen und Ersparnissen auf dem Markt bereits um ein Vielfaches höher ist als deren Akkumulation. Logischerweise folgt erst dann die Ernüchterung und ein harter Einbruch, bei dem stets ein beispielloser Eigentumstransfer stattfindet.

Die oben mehrmals erwähnten goldenen Jahre des Wirtschaftswachstums – 1925 bis 1929 – mündeten schließlich Ende Oktober 1929 in den US-Börsenkrach. Die Geschichte der Finanzmärkte kann dahin gehend äußerst lehrreich sein. Vom Markt der Kryptowährungen um den Bitcoin herum, der derzeit nur knapp zehn Prozent von seinem historischen Allzeithoch entfernt ist, ganz zu schweigen. Aber der Bitcoin ist historisch sehr eng mit den Bewegungen des Aktienmarktes verknüpft. Es ist kein Zufall, dass beide Finanzzweige – und ihre Koryphäen: Nvidia und Bitcoin – eine ähnliche Expansion in ihrer Marktkapitalisierung erleben.

Allerdings besteht der Unterschied zwischen damals und heute darin, dass das Marktwachstum um ein Vielfaches stärker ist, die Wirtschaft noch nicht einmal in der Nähe einer offiziell bestätigten Expansionsphase ist – sondern immer wieder von Rezession gemunkelt wird –, der Faktor "Künstliche Intelligenz" mit hoher Wahrscheinlichkeit stark überbewertet sein könnte und die Quelle der Ersparnisse und des Einkommens bereits ausgeschöpft ist.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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