Meinung

Französische Söldner in der Ukraine und Europas geschichtsvergessener Marsch ins Verderben

Die Zahl der westlichen Söldner, die auf Kiews Seite im Ukraine-Krieg kämpfen, zeigt: In deren Herkunftsländern herrscht der Schlaf der Vernunft. Und nimmt man Frankreich als Beispiel, so hat sich de Gaulles Geist verflüchtigt, während die neuen Pétains allerorten sind.
Französische Söldner in der Ukraine und Europas geschichtsvergessener Marsch ins VerderbenQuelle: AFP © SERGEY BOBOK / AFP

Von Andrei Rudaljow

Frankreich steht vor der Wahl. Das hat es in der Geschichte dieses Landes schon einmal gegeben. Und daran haben Russlands Parlamentarier ihre Kollegen erinnert: Sie haben einen Appell an die Assemblée Nationale gerichtet – aus Anlass der Teilnahme französischer Söldner am Ukraine-Konflikt auf Kiews Seite.

Schon ein ziemlich komplizierter Scheideweg, bedenkt man die alles bindende Trägheit der von Dogma und Meinungsmonopol regierten westlichen Welt. Denn, ja: Zwar wird man dort Antworten auf viele Fragen gleich an der Oberfläche finden können – falls man nur seiner selbst wieder gewahr wird und sich an die eigene Geschichte erinnert. Das ist eine Frage der nationalen Identität. Bloß gibt es da ein Problem: Gedächtnis und Erinnerung sind heutzutage allerorten rar gesät, und das hat katastrophale Folgen. Ein wahrhaft klinisches Musterbeispiel für Amnesie ist die heutige Ukraine: Dort ist das Gedächtnis unwiederbringlich verkümmert und von außen suggerierten monströsen Visionen gewichen.

So heißt es denn in der Ansprache der Duma-Abgeordneten an ihre französischen Kollegen:

"Heute müssen wir uns und unseren Wählern die Frage beantworten – mit wem haben wir es zu tun, wenn wir von Frankreich und den Franzosen reden?"

Zwei Antworten werden in der Frage mit angeboten:

"Mit ideologischen Erben des legendären Präsidenten Frankreichs Charles de Gaulle, den Urenkeln der heroischen Piloten des Luftwaffenregiments Normandie-Niémen, die zusammen mit unseren Groß- und Urgroßvätern die Faschisten zerschlugen –

oder aber mit Anhängern des Verbrechers und Kollaborateurs Marschall Pétain und der SS-Division Charlemagne, die ihre Lehnsherren, die Hitler-Schergen, an den Mauern des Berliner Reichstags erfolglos verteidigten?"

Wer sich diese Frage beantworten kann, wird denn auch verstehen:

"Wofür sterben heute Franzosen auf ukrainischem Boden?"

Und mal ehrlich, wofür überhaupt? Für das Vereinigte Europa und seine Expansion um Ostländer? Für eine Endlösung der Russenfrage? Für eine Verbannung und Demontage Russlands?

Aber das ist doch alles schon dagewesen – im Hinblick auf Frankreich ist dies die politische Linie Pétains, der sich unter den nazideutschen Bannern eines Vereinigten Europas einfand und Hitler zu Hilfe eine "Antibolschewistische Legion" aufstellte. Eine Legion, deren heutiges Pendant vor Kurzem reichlich tote Söldner in Charkow zu beklagen hatte.

Und wo bleibt dann de Gaulle, wo das freie und souveräne, zu einer unabhängigen Politik fähige Frankreich, wo sein Geist des Widerstands? Alles irgendwo verschüttgegangen, verloren, vergessen und selbstvergessen, von der mächtigen Umarmung der restlichen US-amerikanisierten Westwelt zerdrückt? Ist denn nur das glitzernde Bonbonpapier mit Eifelturm und der Côte d‘Azur übriggeblieben, das bestenfalls erstickend schweren Gestank der Pariser Katakomben umhüllt?

Oder ist das moderne Frankreich gänzlich dem Rausch des Wettrennens der Spitzenreiter auf der heutigen Eskalationsspirale verfallen – eines Rennens um den Titel des Ersten und Besten Beschützers der demokratischen Werte? Denn der Westen ist bestenfalls nach außen hin monolithisch, und inwendig sehr heterogen und hierarchisch. Sollte es der Fressinstinkt sein, dessen Ruf Frankreich zur potenziellen Beute folgt, um mögliche künftige Ansprüche und Interessensphären abzustecken – ob nun in Russland oder der Ukraine? Es scheint, als ziehe es Paris magisch in den postsowjetischen Raum – mit offenem, vor Gier sabbernden Mund. Wie kommt das denn?

Der Fragen gibt es viele. Und dieser Appell der Staatsduma Russlands an die Kollegen in Frankreich ist weder ein Strom von Anschuldigungen noch ein Versuch, sie von irgendetwas zu überzeugen oder sie auf Russlands Seite zu ziehen – sondern nichts anderes als Grundsatzfragen zur momentanen Lage, prägnant formuliert und rechtzeitig gestellt. Solange es noch eine Wahl gibt.

Noch eine Frage, die ganz an der Oberfläche liegt – nur braucht es Mut, um sie zu formulieren und sie sich (oder sich ihr?) auch zu stellen. In Frankreich, wo de Gaulles Geist sich nahezu ganz verflüchtigt hat, die Pétains hingegen an jeder Ecke zu finden sind, ist Mut Mangelware. So helfen die russischen Abgeordneten ihren französischen Kollegen denn gern mit den Formulierungen:

"Wer versucht aus aller Kraft, Frankreich mit dessen ernstzunehmender nuklearer Schlagkraft, in eine regionale Konfrontation zu ziehen, die zu einer weltweiten Katastrophe auszuarten droht?"

Lohnt sich die heutige zügellose antirussische Voreingenommenheit denn wirklich – bei solchen Aussichten? Oder nimmt man einfach an, vor Offensichtlichem ein oder auch beide Augen zuzudrücken, und passt die Realität an ein vorgegebenes Bild an?

Doch wie die Gedächtnislosigkeit ist auch dies ein direkter Weg nicht bloß zur Aufrüstung des ukrainischen Monsters, sondern zur Menschenfeindlichkeit bis hin zu offenem Kannibalismus.

Denn wahre Anhänger des Kiewer Regimes nehmen auch selbst dessen Gestalt und Verhalten an.

Leonid Sluzki, Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Belange in der Staatsduma sagte: Wolle Frankreich nicht als Mittäter bei den Kriegsverbrechen des Kiewer Regimes gelten – dann müsse es eine vollwertige (vielleicht sogar eine parlamentarische) Ermittlung bezüglich der Teilnahme seiner Bürger an Kriegshandlungen durchführen, nämlich um ihnen jegliche Formen an Söldnertum unmöglich zu machen.

Doch leider ist noch niemand in Europa willens, in irgendwelche Dinge Klarheit zu bringen oder irgendwelche Probleme zu lösen. Weder was die die Gründe der heutigen Ukraine-Krise und die Handlungen des Kiewer Regimes anbetrifft, noch mit Blick auf eine Untersuchung zu den Explosionen an den Strängen der beiden Nordstream-Pipelines. Weder zu klären und zu lösen, noch zu analysieren, noch ein Bild von der unmittelbaren Zukunft zu modellieren. Zu all dem ist man nicht bereit, weder willens, noch fähig. Denn Frankreich und ganz Europa befinden sich in einer Krise, in einer Sackgasse, in die sie sich an der US-Leine führen ließen – betäubt und berauscht von dem Eindruck, an der Spitze der Zivilisationspyramide zu stehen. Daher sieht man dort weder neue Zukunftsprojekte noch Ideen – ja, nicht einmal neue Gedanken. Nur Selbstsicherheit. Und alles, was sie anbieten können, ist das Marschieren im Gleichschritt, in Reih und Glied. Wohin? Naja, wohin man – zum Beispiel als Söldner – eben beordert wird.

Übrigens ist das Söldnertum ein wunderbares Sinnbild für die heutige Alte Welt: Söldner werden diejenigen, um die es nicht zu schade ist – nicht einmal der eigenen Heimat, denn sie haben Sippe und Stamm eingebüßt.

Doch was, wenn ganze Staaten zu Söldnern werden? Nein, nicht zu Söldnerstaaten oder privaten Militärunternehmen in Staatengröße, wie die russische Seite es im Fall der heutigen Ukraine viel zu gelinde ausdrückt – sondern, was hier viel besser zutrifft, eben zu Söldnern in der Größe von Staaten? Denn nach der Ukraine blüht dies vielen, insbesondere wenn sie sowohl ihre Souveränität eingebüßt haben als auch in Reih und Glied marschieren. Und hier muss man bedenken: Ein Söldner ist kein Subjekt der Geschichte, sondern schlicht Verbrauchsmaterial. Er wird benutzt und bei Gelegenheit mit Vorliebe geopfert.

Würde man die Fragen ehrlich und wohlüberlegt beantworten, welche die russischen Parlamentarier formuliert haben, käme man leicht zu einer einfachen und verständlichen Schlussfolgerung:

Nicht Russland ist (nicht einmal in Russland liegt) die Gefahr, nicht Russland hat Europas Sicherheitsarchitektur torpediert – und die erklärte Zielsetzung des Westens, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen, verschärft daher nur die Lage. Die heutige Ukraine-Krise muss beigelegt und abgewickelt werden – und das destruktive Projekt selbst, die Ukraine, das für alle eine Gefahr darstellt, muss aufgelöst werden.

Diese Mission erfüllt jetzt Russland, und wie der Brief der Staatsduma an die Assemblée Nationale besagt:

"Damit werden Vorbedingungen geschaffen, auf unserem Kontinent eine neue Sicherheitsarchitektur zu errichten, die ausnahmslos allen dienen wird – unter Achtung der vollen Gleichberechtigung aller Länder und Völker."

Als Haupthindernis steht den Völkern dabei die NATO im Weg – gleichsam ein Krebsgeschwür, das der Steuerung Europas von außen dient. Noch im Jahr 1998 schrieb der herausragende russische Denker Alexander Panarin, dass auf lange Sicht die Erweiterung dieser Allianz für Europa nicht minder gefährlich sei wie für Russland. Und zwar ausdrücklich auch deshalb, weil deren Erweiterung "ein Festigungsprozess der US-Amerikanisierung Europas" ist. Und bleibt man bei der langfristigen Perspektive, so schwächt die Erweiterung der NATO "den Status des Westens in der Welt, denn sie mindert die Flexibilität und Vielfalt seiner Strategien."

Mit allem Obigen sind wir nun konfrontiert. Mit der Pest des zwanzigsten Jahrhunderts – dem Faschismus und dem Nazitum –, die uns nun in einer noch aggressiveren Form und ohne jegliche Zügel heimsucht. Diese Pest kann nur von einer Widerstandsbewegung aufgehalten werden. Höchste Zeit für besagtes Frankreich – aber beileibe nicht für Frankreich allein – vom Schlaf der Vernunft, die unter den Pétains dort Ungeheuer gebiert, zur Tat der Résistance aufzuwachen.

Solange es noch nicht zu spät ist.

Übersetzt aus dem Russischen.

Andrei Rudaljow ist ein russischer Schriftsteller, Journalist, bedeutender Literaturkritiker (vor allem des "neuen Realismus" in Russland) und Publizist. Er ist zudem Chefredakteur der russischen Nachrichtenagentur IA Belomorkanal und hat eine Kolumne bei der russischen Ausgabe von RT.

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