Meinung

Ist Russland schwach oder gefährlich? Der Westen kann sich nicht entscheiden

Das Phänomen Russophrenie: In der bipolaren Weltanschauung der kollektiven, von den USA geführten Welt, existieren zwei Russland: Das eine ist rückständig und zerfällt zusehends auseinander, das andere ist ein finsteres, dunkles Imperium, das die Welt bedroht.
Ist Russland schwach oder gefährlich? Der Westen kann sich nicht entscheiden

Von Tarik Cyril Amar

Hier ist ein kleines Experiment, das Sie zu Hause nachmachen können: Geben Sie "Russland gefährlich" in Google oder eine andere Suchmaschine Ihrer Wahl ein. Aber es muss auf Englisch oder einer anderen NATO-nahen Sprache sein, etwa Deutsch, Französisch oder Polnisch. Sehen Sie sich die Ergebnisse an.

Jetzt geben Sie "Russland schwach" ein und wiederholen Sie den Vorgang.

Seltsam, nicht wahr? Bei beiden Suchanfragen erhalten Sie eine Fülle von Links zu Titeln, Meinungsartikeln, Analysen, Umfragen und so weiter, die je nach Fall ein gefährliches oder ein schwaches Russland darstellen. Und viele dieser Quellen werden sogar von hoher Qualität sein oder zumindest zum Mainstream gehören: Reuters, The Telegraph, The New York Times, National Public Radio, seriöse Denkfabriken, Institute und Experten – und so weiter.

Mit anderen Worten: Der Westen produziert etwa zwei gleich prominente Narrative über Russland, die einander ausschließen. Es gibt zwar einige Versuche, sie miteinander in Einklang zu bringen, was ein wenig an die mittelalterliche Scholastik erinnern. So titelte etwa Reuters vor fast einem Jahr:

"Selbst ein schwaches Russland ist ein Problem für Europa."

Wie praktisch aus westlicher Sicht! Auf diese Weise kann man den eigenen Triumphalismus ausleben, denn "Russland schwach" bedeutet natürlich "Westen stark". Gleichzeitig kann man immer noch die Angst vor dem großen, üblen Russland verbreiten, mit allem, was das für die NATO-Politik – das heißt US-Dominanz, Militärausgaben und Waffenhersteller bedeutet. Letztere haben einen weiteren Krieg ausgezeichnet überstanden, der sich – Überraschung, Überraschung – als Gaunerei entpuppte, um es mit den berühmten Worten des US-Marine-Generalmajors Smedley Butler zu sagen (war is a racket/Krieg ist ein Geschäft).

Insgesamt sehen wir jedoch einen starken Kontrast. Man denkt sich vielleicht, dass dies lediglich eine gesunde Debatte widerspiegelt, bei der zwei gegensätzliche Meinungen aufeinanderprallen, oder die Unterschiede in der Sichtweise und in der Wahrnehmung darauf zurückzuführen sind, dass die Zeit vergeht und sich die Dinge ändern, insbesondere in der Ukraine. In gewisser Weise trifft das zu: Es ist zum Beispiel offensichtlich, dass die Stimmung im Westen pessimistischer geworden ist, nachdem das Scheitern der Sommer-Gegenoffensive der Ukraine eingestanden werden musste.

Aber das Gesagte ist bei Weitem nicht die vollständige Erklärung, für die auffällige westliche Bipolarität gegenüber Russland, um einen Begriff aus der klinischen Psychologie zu verwenden. Denn wie so oft bei westlichen Narrativen über dieses Land, helfen sie nicht viel, um das wahre Russland zu verstehen. Aber wenn man gegen den Strich liest, dann kann man mal viel über die beiden imaginären Russland des Westens sagen – ja, es gibt mehr als ein Russland – und das wiederum bietet einige interessante Einblicke in den wahren Kern des Westens. Schauen wir uns eine Auswahl von Punkten an, die in den beiden großen westlichen Narrativen üblicherweise über Russland vorgebracht werden.

Für "Russland gefährlich" bekommen wir: zwanghaft imperial und will die Sowjetunion zurück oder zumindest etwas ähnlich Dominantes; äußerst hinterhältig: meint nie das, was es sagt und auch nicht das Gegenteil; sehr subversiv und kann beispielsweise über den Erfolg oder Misserfolg amerikanischer Präsidentschaftskandidaten entscheiden; militärisch mächtig und rücksichtslos: Seine Streitkräfte sind kampferprobt und lernfähig, seine Waffen fortschrittlich und anpassungsfähig und, was am schlimmsten ist, seine Kriegswirtschaft ist effektiv – anders als die des Westens. Das Land ist ferner gut vernetzt, es bezieht Munition aus Nordkorea, verkauft Öl an Indien, hat China an seiner Seite stehen und ärgerlicherweise befolgt ein Großteil der Welt nicht die Anordnung des Westens, Russland zu isolieren. Und zu guter Letzt darf natürlich der Begriff "totalitär" nicht fehlen.

Für "Russland schwach" stellen wir fest: Russland ist nicht alles, was es zu sein scheint, und eigentlich nur ein Schwindel – an dieser Stelle kann fast niemand dem todmüden Klischee über "Potemkin" widerstehen. Russland ist primitiv in Bezug auf eigentlich alles: Werte, Politik, Organisation, Technologie. Man erinnere sich bloß an die eigensinnige Theorie in Zusammenhang mit Waschmaschinen der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock darüber, wie Russen an ihre Mikrochips kommen? Nein? Glück gehabt! Russland ist wild und dieses Wort passt natürlich hervorragend zum Wort "primitiv" – siehe unter "Russische Soldaten ohne Waffen, aber mit geschärften Schaufeln", es ist isoliert, zumindest von der anständigen Masse im Westen. Und nicht zuletzt ist Russland immer voller unterdrückter Unzufriedenheit der Bevölkerung und möglicherweise zumindest am Rande einer Farbrevolution und eines Regimewechsels.

Wir könnten das Bild verfeinern, aber die Umrisse sollten klar genug sein. Und hier ist, was es offenbart: Was hinter den beiden Russland des Westens steckt, ist nicht nur eine Debatte oder sind unterschiedliche Meinungen und Einschätzungen, sondern es ist die jüngste Wiederholung eines tiefgreifenden kulturellen Musters mit einer langen Geschichte, die zumindest bis zu dem Moment zurückreicht, als Peter der Große Anfang des 18. Jahrhunderts, in den europäischen Club der Großmächte hereinplatzte.

Einerseits liebt es der Westen, sich Russland in einer Weise vorzustellen, die wir als orientalistische Sichtweise bezeichnen, als einen rückständigen Anderen, als Teil dieser immerwährenden Fantasie "Osten", von dem der Westen sich einfach nicht vorstellen kann, ihn als gleichwertig zu akzeptieren. Das ist die Wurzel all dieser Beschreibungen des heutigen Russlands als eine Art Schaufeln schwingende Tankstelle, die aus dem letzten Loch pfeift.

Aber es gibt noch ein weiteres mächtiges Register in der Vorstellung des Westens über Russland: den finsteren Anderen. Während in der orientalistischen Auslegung Russland letztlich immer als beruhigend schwach wahrgenommen wird, ist es in der finsteren Auslegung anders: Als eine Art böses Spiegelbild der Selbstidealisierung des Westens erscheint dieses Russland als modern und mit zeitgemäßen Machtmitteln ausgestattet, und das in mehreren Bereichen, von der Informationssphäre über die Wirtschaft bis zum Schlachtfeld. Der finstere Andere kann auch seine Bevölkerung gut mobilisieren. Er hat – wie der Westen – die politische Herausforderung gelöst, die Massen in die Politik einzubeziehen, nur auf eine Art und Weise, die der Westen gegenüber seiner eigenen Art Konsens zu erzeugen gerne als moralisch minderwertig betrachtet.

Man denke an die Art und Weise, wie Russland den derzeitigen Krieg zwischen ihm auf der einen und der Ukraine und der NATO auf der anderen Seite geführt hat. Anfängliche – und schadenfrohe – Kommentare des Westens über Moskaus Fehler und Versäumnisse, darüber, dass Moskau mit seiner Mobilisierung im September 2022 scheitern und sogar eine großangelegte Rebellion auslösen wird, wenn nicht gar eine Revolution. Das war nicht nur ein klassisches Beispiel für Wunschdenken, sondern kam aus der orientalistischen Auslegung des rückständigen Anderen. Grob ausgedrückt: Diese Russen können es einfach nicht schaffen – weil sie Russen sind."

Als es Russland jedoch gelang, zu mobilisieren und auch seine militärischen Taktiken anzupassen, verlagerten sich zumindest einige westliche Wahrnehmungen in die Tonart des finsteren Anderen: Barry R. Posen, ein ungewöhnlich scharfsinniger westlicher Beobachter, schrieb in der Zeitschrift Foreign Affairs: "Das Besorgniserregendste an der Sache ist, dass Russlands Bombenangriffe zeigen, dass Moskau weiß, was es tut." In der Tat. Aber wo ist hier die Neuigkeit?

Es ist wichtig zu verstehen, dass es bei diesem westlichen Denkmuster nicht nur um passive Beobachtung geht. Im Gegenteil, es gibt einen proaktiven Aspekt: Wir können die vergangenen Jahrzehnte – im Wesentlichen seit dem Ende der Sowjetunion – als geprägt von dem hartnäckigen Versuch des Westens lesen, Russland nicht nur als rückständig und schwach darzustellen, sondern vielmehr sollten Russland – und die Russen – in dieses Bild passen. Unter den Augen des Westens sollte Russland in der real existierenden Hierarchie der internationalen Politik absteigen: Russland ist ein großes Land und ein großer Markt, gewiss, aber immer noch ein Land, das, wenn es hart auf hart kommt, genötigt und sogar besiegt werden könne. Und weil Moskau dieser Degradierung erfolgreich widerstanden hat, ist Russland nun wieder der finstere Andere.

Diese Verschiebung veranschaulicht das Deprimierendste an den Ansichten des Westens über Russland: Der Westen kann gelegentlich seinen Ton ändern. Er kann sogar gleichzeitig zwei sehr unterschiedliche, einander ausschließende Narrative über Russland hervorbringen, wenn er in einem Moment des Übergangs oder der Verwirrung feststeckt, aber er will nie wirklich dazulernen. Im Großen und Ganzen und mit wenigen Ausnahmen wechselt er lediglich zwischen verschiedenen Stereotypen hin und her. Was für eine verpasste Chance. Immer und immer wieder.

Aus dem Englischen.

Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar

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