Meinung

Wem nützt die Dominanz des Westens?

Ist die heutige Weltordnung wirklich von Vorteil für die Bevölkerung der westlichen Länder? Oder ist es nicht doch nur eine kleine, oder gar sehr kleine Schicht, die davon profitiert, 85 Prozent der Welt in Abhängigkeit zu halten?
Wem nützt die Dominanz des Westens?Quelle: www.globallookpress.com © Jan Haas

Von Dagmar Henn

Dieser Artikel ist eine Erwiderung. Das ist ungewöhnlich, aber es gibt einige Passagen im Text von Bernd Murawski, die meiner Meinung nach so nicht zutreffen. Ein Zitat dürfte genügen, um die Differenz sichtbar zu machen. Es bezieht sich auf die Ordnung der westlichen Dominanz.

"Nutznießer sind nicht nur die gesellschaftlichen Eliten, sondern die gesamte Bevölkerung der reichen Industrieländer, darunter sogar die Empfänger von Sozialhilfen, Renten und Pflegeleistungen. Die vielfältigen Bildungs-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen wie auch die immer kostspieligeren Gesundheitsdienste wären nicht finanzierbar, wenn Vertreter des Westens nicht auf globaler Ebene nahezu frei agieren könnten."

Diese Aussage ist so nicht haltbar. Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Die Ökonomie des zweiten deutschen Staates beruhte nicht auf der Ausbeutung anderer Länder. Das hatte an einigen Punkten sichtbare Nachteile, explizit im Angebot an Kaffee, Bananen und Orangen; aber wer heute sieht, dass Vietnam einer der weltgrößten Kaffeeproduzenten ist, sollte dabei auch daran denken, dass die DDR diese Produktion einst angestoßen und gefördert hat und damit den Mangel an Kaffee schon fast behoben hatte, und zwar ohne jede Ausbeutung, als sie von der Landkarte verschwand.

Wie ist es mit Gesundheitsdiensten, Bildung, Kultur und Freizeit? Auch da war das Angebot dort wesentlich reichhaltiger. Jedes Dorf hatte sein Kulturhaus. Seit 1989 hat sich die Spaltung zwischen Stadt und Land in dieser Hinsicht auch im Westen weiter verschärft; das Land ist schlicht kulturelle Wüste. Gesundheitsdienste, das zeigt das Beispiel der USA, sind dann richtig teuer, wenn sie der Erzielung von Gewinnen dienen sollen. In Deutschland hat sich die Versorgung seit Anbeginn der Privatisierung im Gesundheitswesen ebenfalls kontinuierlich verschlechtert, und da die Einkommen der Beschäftigten im Interesse eben dieser Gewinne niedrig gehalten werden müssen, steht der ganze Sektor inzwischen vor dem Zusammenbruch mangels Pflegekräften.

Reden wir von den Renten. Sie wurden seit den 1970ern kontinuierlich gekürzt, und eine Mehrheit der Rentner erhält nicht genug, um davon mehr als irgendwie überleben zu können. Soll das wirklich eine Beteiligung am kolonialen System darstellen? Wäre es tatsächlich so, dass ohne Elend in Afrika, Asien und Lateinamerika die Mehrheit der Bevölkerung des Westens darben müsste?

Murawski macht das an den Rohstoffpreisen fest, die steigen müssten, wenn die Länder, aus denen sie stammen, angemessen dafür bezahlt würden. Wenn man sich nun die langfristige Entwicklung einiger Rohstoffpreise betrachtet, vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute, stellt man fest, dass es von Beginn der 1960er bis Ende der 1970er eine Phase relativ hoher Rohstoffpreise gab. Man könnte das die "Souveränitätsbeule" nennen. Die alte Form der kolonialen Herrschaft, der direkten Regierung durch die Kolonialmacht, war beendet, und die neue Form, via IWF und Weltbank, war noch nicht richtig etabliert; also stiegen die Rohstoffpreise. Die Tatsache, dass ab den 1970ern in allen westlichen Industrieländern die Sozialsysteme ab- und nicht mehr aufgebaut wurden, hat allerdings mehr mit der Entwicklung im Bereich der Automobil- und Elektroindustrie zu tun, die den Höhepunkt ihrer Ausweitung Anfang der 1970er überschritten hatten, als mit dieser vorübergehenden Phase stärkerer Souveränität.

Tatsache ist: Seit der Zeit von vor fünfzig Jahren ist die Produktivität enorm gestiegen. In vielen Fällen ist der im Vergleich zu damals deutlich niedrigere Preis mancher Produkte vor allem eine Widerspiegelung dieser Produktivitätsentwicklung. Ein Fernseher wird heute mit wesentlich weniger Arbeitszeit gebaut als vor fünfzig Jahren; das bliebe so, selbst wenn die verbauten Rohstoffe teurer würden. Die Textilindustrie ist vor allem deshalb früh in Entwicklungsländer abgewandert, weil sich dadurch die fertigen Waren weit über den eigentlichen Produktionskosten verkaufen ließen; ein zwangsläufig vorübergehender Vorteil, der zu einer Art Wanderzirkus führte, der inzwischen in Afrika angekommen ist. Inzwischen sind große Teile der industriellen Produktion der Textilindustrie gefolgt; Waschmaschinen kommen in Deutschland beispielsweise vorwiegend aus der Türkei.

Aber hätte eine gerechtere Weltordnung die Folge, dass die normale Bevölkerung im Westen weniger konsumieren könnte? Wenn man betrachtet, wie die Entwicklung seit der ökonomischen Wende der 1970er verlief, und welche Folgen die neoliberale Politik, die sich in all diesen westlichen Ländern durchsetzte, auf die Einkommen und deren Verteilung hatte, ist das fraglich. Damals konnte eine Arbeiterfamilie mit einem Einkommen ein Haus bauen und Kinder aufziehen. Heute muss sie mit zwei Einkommen zwischen Haus und Kindern wählen, wenn sie überhaupt genug einnimmt, um sich eines von beidem leisten zu können. Die unteren Einkommen sind seit Jahrzehnten real eher gesunken, nicht gestiegen; was wie ein höherer Konsum scheint, ergibt sich nur aus den sinkenden Werten der konsumierten Produkte. Aber sich problemlos einen Computer kaufen zu können, gleicht nicht aus, die eigene Wohnung zu besitzen, weil dies gerade im Alter die beste Absicherung darstellt.

Sämtliche Sozialleistungen sind, wie die Löhne, nicht mit der Produktivität gestiegen, sondern im Gegenteil immer weiter gesunken. Also wohin sind die Erträge dieser Produktivität geflossen? Gerade in Deutschland ist das besonders extrem. In all den Jahren als Exportweltmeister kam nichts bei der Bevölkerung an; der größte europäische Niedriglohnsektor wurde gelobt, aber letztlich wurde aus den Taschen der Produzenten das genommen, was am Ende über den Umweg des Exports bei den Besitzern der Produktionsmittel dieser Exportwirtschaft ankam.

Innerhalb dieser ganzen Zeit bestand das Abhängigkeitssystem über IWF und Weltbank, und setzte sich im Gefolge der Finanzkrise 2008 mit den Troika-Verträgen sogar innerhalb der EU fort; schrecklichen, strangulierenden Verträgen, die massive Einschnitte ins Sozialsystem vornahmen. Wenn die These, die Murawski aufstellt, tragfähig wäre, wo war dann in all diesen Jahren der Aufstieg der ausgebeuteten Länder? Der Verlauf war anders; sowohl dort als auch in den besagten Kernländern wurde die Ausbeutung verschärft. In welcher Form bitte haben die Bewohner der US-amerikanischen Zeltstädte teil an der kolonialen Ausbeutung, die Insassen des US-Gefängnissystems?

Es ist die Entwicklung des Rentenkapitals, die das Problem darstellt. Als die Automobil- und Elektroindustrie ihren Höhepunkt überschritten hatten, reagierten alle westlichen Länder gleich: Sie beseitigten gesetzliche Zinsschranken, hoben Begrenzungen der Spekulation auf und sorgten mit der neoliberalen Politik dafür, dass Bereiche zum Zwecke der Gewinnerzielung umgebaut wurden, die ihrer Natur nach nicht dafür geeignet sind. Ein einfaches Beispiel: die Privatisierung des Gesundheitswesens.

In allen westeuropäischen Ländern war das Gesundheitswesen staatlich bzw. durch die Versicherungen der Beschäftigten finanziert, aber nur ein relativ kleiner Sektor der Privatmedizin für die Reichen war gewinnorientiert. Dann wurden immer mehr private Kliniken zugelassen, und selbst kommunalen und Landeskliniken wurde auf einmal die Auflage erteilt, sie müssten als "Beteiligung" Gewinne erwirtschaften.

Was wäre noch vor fünfzig Jahren das Ergebnis gewesen? Die dadurch gestiegenen Kosten (der Gewinn muss ja auf die eigentlichen Kosten aufgeschlagen werden) hätten sich in Gestalt höherer Krankenkassenbeiträge bemerkbar gemacht; daraufhin hätten sich die Beschäftigten einen höheren Lohn erkämpft, was wiederum für die Besitzer der Produktionsunternehmen den Gewinn gesenkt hätte. Solange also die Beschäftigten sich gegen diese Angriffe auf ihr Einkommen wehren können, bleibt die Privatisierung des Gesundheitswesens für die Gesamtklasse der Kapitalbesitzer ein Nullsummenspiel: Was der eine gewinnt, verliert der andere. Erst nach der weitgehenden Zerschlagung der Gewerkschaften machte diese Privatisierung Sinn; letztlich ist sie nichts anderes als eine raffinierte Form der Lohnsenkung.

Das Problem Anfang der 1970er war bereits zu viel Kapital und zu wenig Möglichkeit, es irgendwo gewinnbringend zu investieren. Das viele nutzlose Geld floss in Grund und Boden sowie Immobilien und schraubte die Mieten nach oben; wenn man überprüft, wie viel die Bürger der DDR für ihren Wohnraum zahlten und wie viel die meisten heute dafür zahlen müssen, sieht man einen weiteren Betrag, der vom Lohnempfänger weg an die Klasse der Kapitalbesitzer fließt. In den Großstädten können das schon einmal 60 Prozent des Einkommens sein.

Die Ansprüche dieses aufgehäuften Geldes sind so enorm geworden, dass nicht einmal mehr ein vernünftiger Umgang mit den Grundlagen der Produktivität möglich ist. Die Staatshaushalte wurden durch Steuersenkungen für die Wohlhabenden (in den USA lag bis 1974 der Spitzensteuersatz bei 95 Prozent) so weit geschrumpft, dass die Erhaltung der Straßen- und Stromnetze gefährdet ist. Man sehe sich nur einmal an, wie viele der Autobahnbrücken in Deutschland renovierungsbedürftig sind und nicht renoviert werden.

Neben all diesen Schröpfmaßnahmen, verkleideten Lohnsenkungen, die sich hinter all den Privatisierungen verbergen, gab es eine Verlagerung gewaltiger Geldmittel in andere Bereiche der Rentenwirtschaft, all das, was sich "geistiges Eigentum" nennt. Gigantische Konzerne wie Microsoft oder Google beruhen auf nichts anderem als einer Art Besteuerung von Gedanken, Kenntnissen, Wissen. Inzwischen werden große Teile der kolonialen Einnahmen auf diese Art und Weise erzielt: Patent- oder Lizenzgebühren. Und das ist der Knackpunkt, der erklärt, warum sich die Bundesregierung mit den USA in einem Boot sieht, obwohl gerade die Industrie und damit die Lebensgrundlage der Mehrheit der Bevölkerung geschreddert wird. Die Eigentümer des wirklich großen Kapitals, die Milliardäre, sind alle an diesen Geschäften beteiligt. In den USA wie in der EU betragen die Einnahmen aus dem "geistigen Eigentum" mindestens 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und es sind diese Einnahmen, die gefährdet, oder, um es deutlicher zu sagen, schlicht weg sind, wenn das koloniale System fällt.

Mit der Welt der Normalsterblichen haben diese Einnahmen aber wenig zu tun. In dieser Welt geht es nach wie vor um real erzeugte Dinge, und es sind vor allem die Manöver dieser winzig kleinen Schicht der Milliardäre, die dafür sorgen, dass diese real erzeugten Dinge teurer werden. Der wirkliche Witz an der CO2-Abgabe ist nämlich nicht der, dass sie Firmen anhält, "klimafreundlicher" zu produzieren, wenn man sich auf diese Geschichte einlassen will. Der wirkliche Witz ist, dass die Zertifikate gehandelt werden und mit ihnen spekuliert werden kann. So, wie mit den Strom- und Gaspreisen spekuliert wird, mit Weizen und anderen Nahrungsmitteln. Und diese Spekulation wird wieder von jener kleinen Klasse der Milliardäre betrieben.

In der wirklichen Welt müsste der Produktivitätsgewinn seit jenem Wendepunkt vor 50 Jahren einen höheren Wohlstand erzeugen, als er in den Kernländern des Westens zu finden ist. Wenn man wissen will, wie das Potential aussähe, muss man nach China blicken. In der wirklichen Welt könnten die Bedürfnisse aller gedeckt werden, auf weit höherem Niveau als heute, wenn nicht das seit Jahrhunderten angesammelte Kapital wie eine erstickende Decke auf allem läge und dafür sorgen würde, dass alle Erträge nur ihm und ihm allein zugutekommen.

Es gibt ein sehr interessantes Buch des Soziologen David Graeber, mit dem Titel "Bullshit Jobs". Er stellt darin die These auf, dass spätestens seit der Weltwirtschaftskrise 1929 eine Unzahl völlig überflüssiger Beschäftigungen geschaffen wurde, um die Zahl der Arbeitslosen zu senken. Er führt eine Menge sehr überzeugender Beispiele an. Übrigens hat die neoliberale Politik auch dafür gesorgt – man muss nur einmal nachfragen, wie viel Zeit in Kliniken heute mit Verwaltungsaufgaben statt mit Medizin verbracht wird. Sein Resümee ist, dass es schon längst möglich wäre, mit einer Arbeitszeit von nicht mehr als 20 Stunden in der Woche mindestens auf dem gleichen Niveau zu leben.

Es sind die Eigentumsverhältnisse, die dafür sorgen, dass eine Produktivität, die Wohlstand bei einer Arbeitszeit von 20 Stunden pro Woche ermöglichen könnte, zu einer Quelle des Elends wird, die zu Zeltreihen von Obdachlosen in den Großstädten der reichsten Länder führt. Es sind diese Eigentumsverhältnisse und die Profite der Milliardäre, die der Westen gegen die Länder des Südens verteidigt.

Auch wenn die Bevölkerungen dieser westlichen Kernländer in den letzten Jahrzehnten so gründlich bearbeitet wurden, dass sie verlernt haben, ihre unmittelbaren Interessen durchzusetzen – ein Ende der kolonialen Struktur bringt auch die Maschinerie der ideologischen Betreuung zum Stillstand. Sicher, es würde Anpassungsprobleme geben. Aber weit mehr als die vermeintlich im Westen vom Tisch der Reichen fallenden Brosamen hat die Vorstellung, eine gerechtere Weltordnung schade dort selbst den Armen und Gerechtigkeit sei nur um den Preis des Verzichts zu haben, dazu geführt, dass heute nicht erkannt wird, dass die Freiheit der Benachteiligten unteilbar ist und die Befreiung des Südens auch für die Mehrheit des Westens befreiend wirkt.

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