Meinung

Das Grauen von Mariupol – Am Fluchtkorridor warten die Mörder von Asow

Die russische Armee erklärt, sie habe in jeder umringten Stadt Fluchtkorridore für Zivilisten geschaffen. Aber es gibt deutliche Hinweise, dass ihnen das von ukrainischer Seite nicht gestattet wird. Schlimmer noch, dass jene, die flüchten wollen, ermordet werden.
Das Grauen von Mariupol – Am Fluchtkorridor warten die Mörder von AsowQuelle: Sputnik © Nikita Sergejew

Von Dagmar Henn

In jedem Krieg gibt es Wahrheit und Lüge, und es ist selten einfach, beide auseinanderzuhalten. Insbesondere dann, wenn man es aus der Entfernung versucht. Aber trotzdem muss man manche Dinge berichten, selbst wenn die Bestätigung vielleicht noch etwas vage ist.

Aus der Stadt Mariupol, genauer gesagt, von den Ausfahrten aus der Stadt, kursieren mehrere Videos im Netz. Das erste davon sah ich bereits vor einigen Tagen. Es stammt aus einer Kamera, die vorn in einem Auto installiert ist; hier in Deutschland kommt das erst langsam in Mode, aber in Osteuropa ist das sehr verbreitet, um im Falle eines Unfalls einen sicheren Beleg zu haben.

Man sieht nur, was sich vor dem Fahrzeug abspielt. Das Fahrzeug steht hinter einem weiteren, die Gründe, warum beide Fahrzeuge stehen, erschließen sich erst nicht. Bis ein Trupp von Bewaffneten an das vordere Fahrzeug herantritt und beide Insassen herauszieht. Der Fahrer wird auf die Knie gezwungen. Dann wird er erschossen. In diesem Augenblick tritt der Fahrer des Fahrzeugs, in dem die Kamera installiert ist, aufs Gas. Einer der Bewaffneten muss zur Seite springen und man hört noch die Schüsse, die dem Auto hinterhergefeuert werden.

Bei den Bewaffneten handelt es sich um ukrainische Truppen. Die Uniformen sind etwas heller als die russischen, die Jacken sind dünner und insgesamt ist die Ausrüstung schäbiger. Die Information, die mit dem Video geliefert wurde, nennt Mariupol als Ort der Aufnahme.

Nun ist es, wie gesagt, nicht so einfach, Täuschung und Wahrheit auseinanderzuhalten, und in jedem Krieg hat jede der Parteien ein Interesse daran, selbst so gut wie möglich dazustehen und das Gegenüber in möglichst düsteren Farben zu malen. Also wird relevant, was sonst noch bekannt ist. In den Mitteilungen des russischen Verteidigungsministeriums beispielsweise wird erwähnt, dass in mehreren umringten Städten wie zum Beispiel in Charkow, Mariupol und Kiew gemäß Genfer Konvention Fluchtkorridore für die Zivilbevölkerung eingerichtet wurden, aber die ukrainische Seite, insbesondere die ideologischen Bataillone, eine Flucht nicht zulassen.

Das kann immer noch nur eine Behauptung sein. Aber: Von Mariupol ist bekannt, dass sich dort das Bataillon Asow festgesetzt hat – bereits seit 2014. Asow ist diese Truppe mit der Wolfsangel auf der Fahne. Im Verlauf der Jahre gab es eine Vielzahl von Berichten über das Verhalten dieser Einheit. Berichte von Mord und Folter und Hinrichtungen von Gefangenen; mehr als genug davon, um sie nicht mehr von der Hand weisen zu können.

Vor Jahren habe ich einmal ein Interview mit einem jungen Mann übersetzt, der in der Donezker Miliz war. Davor war er am 9. Mai 2014 einer der Streamer gewesen, die den Einfall der Nationalgarde in die Stadt dokumentierten. Wenige Tage später verschleppten Leute von Asow den damals 16-Jährigen, folterten ihn und stellten ein Video ins Netz, in dem sie sein aufgequollenes Gesicht zeigten und ihn zwangen, ihren Gruß "Heil der Ukraine, den Helden heil" zu sagen. Als er wieder freikam, flüchtete er so schnell wie möglich nach Donezk.

Asow ist ein zentraler Teil der ukrainischen Misere, und jener, über den sogar in den deutschen Medien zumindest gelegentlich etwas ehrlicher berichtet wird. Nicht über ihre Taten, aber zumindest über ihre Ideologie, die sie so gut sichtbar mit Wolfsangeln und schwarzen Sonnen vor sich her tragen. Darüber, wie sehr sie ihren Vorbildern ähneln, berichtet man ungern. Inzwischen darf man sogar aus Deutschland für diesen Haufen wieder spenden ...

Es befinden sich in der Gegend also Einheiten, denen ein solches Vorgehen durchaus zuzutrauen ist. Das macht das Video schon deutlich wahrscheinlicher. Nun gibt es ein weiteres solches Video, das länger ist und mehr Details liefert.

Ausgangspunkt ist auch diesmal ein Wagen auf einer Landstraße. Den Stimmen zu Folge sind in diesem Wagen ein Mann und eine Frau. Es sind Aufnahmen einer Handykamera. Der Fahrer steigt aus, weil am Straßenrand weitere Fahrzeuge stehen, mit offenen Türen. Und er filmt, was er sieht.

Im ersten Wagen sitzt niemand, aber vor dem Wagen liegt ein Mann auf der Straße im Schnee. Der Filmende beugt sich hinunter, berührt den Mann und spricht ihn an. Der Mann ist tot. Blut ist von seinem Kopf in den Schnee getropft. Im nächsten Wagen sitzen hinten zusammengesackt zwei Frauen und vorne ein Mann, alle drei ebenfalls tot, dem Anschein nach erschossen. Der Filmende sagt, er wolle den Notarzt rufen und fingert an einer Tasche, die wohl sein Erste-Hilfe-Koffer ist. Seine Frau widerspricht, da sei keine Hilfe mehr nötig. Er geht zurück zum ersten Wagen, geht an ihm vorbei und findet neben der Straße zwei weitere Tote mit dem Gesicht nach unten.

Während er immer noch nach Möglichkeiten sucht, irgendwie zu helfen, sind aus dem Hintergrund Schüsse zu hören. Er ruft der Frau zu: "Zum Auto, schnell!" Man sieht das Laufen, das Handy wird irgendwo ins Auto geworfen, er fährt los, die Schüsse sind inzwischen sehr nah, die Frau schreit. Im Kommentar zu diesem Video ist zu lesen, die Frau sei umgekommen, der Mann sei verwundet worden und verstecke sich jetzt in der Umgebung von Berdjansk, eine andere Stadt am Asowschen Meer, etwa 40 Kilometer nach Westen.

Die Aufnahmen (Achtung – verstörende Bilder) zeigen eine schneebedeckte Landschaft, aber es ist nicht sehr kalt. Das passt zum Wetterbericht aus Mariupol, der Temperaturen um den Gefrierpunkt meldet und vor Glatteis warnt. Es gibt also keinen eklatanten Widerspruch zu diesen Nebeninformationen. Auch das Verhalten der beiden Personen wirkt realistisch; sie sind nicht auffällig, der Mann atmet schnell, sie streiten sich ein wenig und auch der Schrecken in dem Ruf "zum Auto, schnell" klingt echt. Das Blut, das in den Schnee getropft ist, scheint sich hineingeschmolzen zu haben, wie das bei warmen Flüssigkeiten zu erwarten ist.

Aber das alleine würde immer noch nicht reichen, um die Glaubwürdigkeit dieser Aufnahmen zu sichern. Es gibt Schauspieler. Es gibt Make-up und Filmblut. Und natürlich gibt es ein Interesse, das eine Inszenierung motivieren könnte.

Aber neben den beiden Videos und den Aussagen des russischen Militärs habe ich noch eine weitere Quelle, ein Gespräch mit einem Mann vor wenigen Tagen, dessen Familie in Mariupol ist. Auch er sagte, es werde schwierig, sie herauszubringen, weil Asow alle umbrächte, die es versuchten. Das habe ihm seine Frau am Telefon berichtet.

Das wäre immer noch nicht genug, um es gerichtsfest zu beweisen. Aber es reicht aus, um zu sagen: Diese Aufnahmen sind mit hoher Wahrscheinlichkeit echt. Sie zeigen etwas, was gerade in der Ukraine geschieht. Verbrechen, verübt an den aus ukrainischer Sicht eigenen Leuten, die nur eine Stadt verlassen wollten.

Die Menschen, die dort, wo Asow die Kontrolle hat, in den Kellern einer Stadt sitzen, die sie nicht verlassen können, und hoffen, dass die Kämpfe bald vorübergehen, werden sich nicht besetzt fühlen, wenn die russische Armee die Herrschaft von Asow beendet, sondern befreit. Und danach gibt es die Möglichkeit, denen, die an diesen Schrecken zweifeln, Aussagen vorzulegen, die diese Zweifel beseitigen.

Aber besser als jede Form der Aufarbeitung danach wäre es, wenn solche Schrecken nicht erneut in Europa Einzug gehalten hätten. Wenn nicht jahrelang (und jetzt wieder verstärkt) alle hiesigen Medien nach Kräften versucht hätten, diese Wahrheit zu verschweigen, und wenn die deutsche Politik ihr so gerne hervor gestrichenes "Nie wieder" am Beispiel der Ukraine in die Tat umgesetzt hätte. Das wäre ihr immer möglich gewesen. Sie wollte es nicht. Die Toten, die Asow hinterlässt, hat auch unser Land mit zu verantworten.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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