Meinung

Der Westen konnte Syrien nicht mit Krieg zerstören – jetzt lässt er mit Sanktionen das Volk hungern

Vor gut zehn Jahren lebten die Syrer in Sicherheit, physisch wie finanziell gesehen. Nach zehn Jahren Krieg gegen Syrien ist die physische Sicherheit zwar weitgehend wieder da – doch zunehmend zerstörerische westliche Sanktionen zwingen die Syrer in einen Existenzkampf.
Der Westen konnte Syrien nicht mit Krieg zerstören – jetzt lässt er mit Sanktionen das Volk hungernQuelle: Reuters © Firas Makdesi

Kommentar von Eva Bartlett

Der syrische Analytiker Kevork Almassian stellte treffend fest:

"Wäre der Krieg im Namen des CIA-Regimewechsels, wären Bewaffnung und Ausbildung von Zehntausenden Terroristen aus vielen Ländern, wären die drakonischen Sanktionen, die ausländische Besetzung des Nordens und Ostens, wären die Plünderung des Erdöls und die Verbrennung des Weizens auf den Feldern nicht gewesen, hätte Syrien jetzt eine glänzende Wirtschaftslage und einen hohen Lebensstandard."

Als ich Syrien im Jahr 2014 zum ersten Mal besuchte, aber auch in den Jahren danach, schlugen täglich Mörsergranaten und Raketen aus dem von Terrorgruppierungen besetzten Gebieten Ostghuta auf Damaskus ein; in den von der Regierung kontrollierten Gebieten in Aleppo und anderswo in Syrien ebenfalls.

Eltern wussten nie, ob ihre Kinder von der Schule zurückkehren oder in der Schule unter Beschuss geraten würden. Unzählige syrische Zivilisten wurden in den letzten zehn Jahren durch solchen Beschuss verstümmelt, unzählige weitere getötet.

Man könnte also erwarten, dass im Jahr 2021, als der Terrorismus in Syrien größtenteils ausgerottet wurde, die Syrer zu einem normalen Leben wie vor zehn Jahren zurückkehren könnten. Doch die brutalen Sanktionen stürzten die Syrer im Laufe der Jahre wörtlich in die Hölle – und unter den jüngsten Sanktionen verschlechtert sich ihr Leben nunmehr exponentiell.

Eine ganze Hälfte des letztes Jahres verbrachte ich in Syrien, weil wegen der Pandemie-Wirren die Grenzen geschlossen waren. Da ich viel Zeit hatte, lief ich täglich stundenlang durch Damaskus. Eines Nachmittags wollte ich eine schöne Aussicht über die Stadt genießen und ging durch enge Gassen den Berg Qasioun hinauf. Dort traf ich auf Einheimische, die von Gemeinschaft und gegenseitiger Unterstützung in schweren Zeiten sprachen.

Die Aussicht wollte ich auf Fotos festhalten und hielt an. Da rief die Stimme eines jungen Mädchens nach mir. Kurz darauf saß ich in einer bescheidenen Stube, trank kaltes Wasser und unterhielt mich mit seiner Familie.

Nur durch Zufall erfuhr ich, dass der Vater an Prostatakrebs erkrankt war und sehr unter dem Mangel an bezahlbaren Medikamenten litt: Diese waren aufgrund der Sanktionen immer schwerer zu beschaffen – und das war noch im April, also Monate bevor das US-Gesetz mit dem sadistisch-hämischen Namen Caesar Syria Civilian Protection Act in Kraft trat.

Sadistisch, weil die von diesem Gesetz vorgesehenen Sanktionen zwar angeblich die syrische Regierung und ihre Verbündeten ins Visier nehmen, um angebliche "Kriegsverbrechen" gegen Zivilisten zu bestrafen und vor weiteren abzuschrecken – in Wirklichkeit aber ebendiesen syrischen Zivilisten endloses Leid zufügen. Damit prahlte, wie ich früher schrieb, der frühere US-Sondergesandte für Syrien James Jeffrey. Berichten zufolge äußerte er, dass die Sanktionen "zum Kurskollaps des syrischen Pfundes beigetragen" haben.

Dieses Muster konnten wir im Hinblick auf westliche Sanktionen bereits beobachten – in Venezuela machten sie nicht nur das Leben der Menschen zur Hölle, sondern erwiesen sich, wie ich auch bereits schrieb, als Mord an bis zu 40.000 Venezolanern in der Zeitspanne von nur einem Jahr. Dahingehende Daten lieferte das Center for Economic and Policy Research.

Ein kürzlich erschienener Gastartikel in der Financial Times befasste sich mit der andauernden (konzertiert von außen herbeigeführten) Wirtschaftskrise in Syrien. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Sanktionen, und es wird festgestellt, dass 60 Prozent der Syrer unter Ernährungsunsicherheit leiden.

In Wirklichkeit könnte diese Zahl sogar wesentlich höher liegen, denn in einem Artikel auf Just Security vom Juli 2020, in dem die Rechtswidrigkeit der Sanktionen detailliert beschrieben wurde, nannte die Autorin 83 Prozent als Anteil der syrischen Bevölkerung, der unterhalb der Armutsgrenze lebe. Dieser Artikel bemerkte zu den Caesar-Sanktionen:

"Anders als die zuvor bestehenden Sanktionen gelten diese für Transaktionen überall auf der Welt, die die syrische Regierung oder bestimmte Sektoren der syrischen Wirtschaft betreffen – selbst wenn diese Transaktionen keinerlei Verbindung zu den Vereinigten Staaten aufweisen.

Solche Sanktionen legen die Wirtschaft eines Staates lahm, unterbrechen die Lieferbarkeit von Lebensmitteln, Medikamenten, Trinkwasser sowie Hygiene-, Reinigungs- und Kommunalbedarfsgütern, stören die Funktion des Gesundheits- und Bildungssystems und untergraben die Arbeitsfähigkeit der Menschen."

"Dies sind keine unbeabsichtigten Nebeneffekte – sie sind der ganze Zweck der Übung."

Der FT-Artikel bemerkt, dass nach Inkrafttreten des Caesar-Gesetzes das syrische Pfund "in den folgenden Monaten fast 70 Prozent seines Kurses gegenüber dem US-Dollar verlor. Dies löste eine Inflationsspirale aus, die sich auf die Lebensmittelpreise auswirkte: Diese haben sich im Jahr 2020 mehr als verdreifacht".

Und ganz im Gegenteil zur Behauptung der USA, die Syrer mit diesen Sanktionen zu "schützen", beeinträchtigt das Caesar-Gesetz "die lokale Wirtschaft vor allem im Bau-, Energie- und Finanzsektor auf das Schwerste und blockiert jegliche Möglichkeit eines Wiederaufbaus in dieser Phase des Konflikts geringerer Intensität".

Obwohl ich die Ereignisse in Syrien nach meiner Abreise Ende September 2020 weiterverfolgte, war selbst ich bei meiner Rückkehr in der letzten Maiwoche 2021 über die durch die Decke gegangenen Preise für Grundlegendes sehr überrascht. Etwa ein halbes Kilo Hummus, das letztes Jahr noch 400 syrische Pfund kostete, kostet jetzt 2.200. Beim aktuellen offiziellen Wechselkurs von 2.500 zu 1 ist das etwas weniger als ein US-Dollar – aber das Durchschnittsgehalt in Syrien liegt auch bei 50.000 bis 60.000 syrischen Pfund pro Monat.

Im FT-Artikel heißt es, dass ein Kilogramm Rindfleisch "etwa ein Viertel des durchschnittlichen Monatsgehalts eines öffentlichen Angestellten kostet. Zum Vergleich: In Italien entspräche das 700 € pro Kilogramm. In Großbritannien? 300 £ pro imperiales Pfund".

Ich unterhielt mich mit einem Freund, der nur ein Kind hat. Er schilderte, 15.000 syrische Pfund (ca. 6 US-Dollar) für Gemüse auszugeben, mit dem die Familie mehrere Tage auskommt. Damit ist ein Viertel seines Gehalts weg, und viele andere Ausgaben stehen dann noch erst an.

Das Midan-Viertel in Damaskus ist normalerweise voller Shoppingfreunde, die zu den berühmten Süßwarengeschäften kommen. An dem Tag, an dem ich dort war, war Midan jedoch nicht gerade überfüllt. Dort schilderte ein Zigarettenverkäufer, mit dem ich mich unterhielt, wie er das tägliche Brot für seine Frau und seine beiden Söhne wortwörtlich erkämpfen muss. Wie für die meisten Syrer ist der Zigarettenverkauf für ihn ein Zweitverdienst. Manche haben drei Jobs, arbeiten von morgens früh bis spät abends – und kommen trotzdem nicht über die Runden.

Er spricht von der Selbstversorgung, die Syrien vor dem Krieg bewerkstelligte, davon, wie damals jeder Arbeit hatte, aber jetzt die Menschen förmlich ersticken.

"Wir müssen rationieren! Früher habe ich jeden Monat ein Kilo Fleisch gekauft, aber jetzt kaufe ich 200 Gramm. Mein Gehalt beträgt 55.000, und wenn ich mit dieser zweiten Arbeit hier 50.000 dazuverdienen kann, habe ich 100.000 syrische Pfund. Aber dieser Betrag reicht immer noch nicht aus!

Gestern habe ich etwas Joghurt, Käse, eine Packung Mortadella und eine Schachtel Papiertücher gekauft. Ich habe 11.000 syrische Pfund bezahlt. Das war nur für einen Tag – und nur für das Frühstück."

Ihm zufolge wirkt sich der durch Sanktionen bedingte Mangel an Düngemitteln und Insektiziden unmittelbar auf die Landwirtschaft aus.

In Damaskus traf ich mich auch mit dem französischen humanitären Helfer Pierre Le Corf, der seit sechs Jahren in Syrien lebt – die meiste Zeit davon in Aleppo. Le Corf, der in Aleppo mit einigen der ärmsten und am stärksten betroffenen Syrer arbeitet und lebt, sprach davon, wie die Sanktionen darauf abzielen, nicht nur Zivilisten zu töten, sondern auch die Hoffnung:

"Man sieht vielleicht keine verhungernden Menschen auf der Straße, aber das macht das Leid nicht allein aus. Die Menschen leiden im Stillen. Immer mehr junge Menschen verlassen das Land, nicht weil sie Syrien verlassen wollen oder sich hier unterdrückt fühlen, sondern aus dem Gefühl heraus, keine Hoffnung mehr zu haben.

Der Kurs der Währung ist von 50 syrischen Pfund [für einen US-Dollar, vor dem Krieg] auf 4.000 syrische Pfund gegangen. Da arbeiten die Menschen also von morgens bis abends, und am Ende des Tages fragen ihre Kinder vielleicht nach einer Banane. Ein Kilogramm Bananen kostet 5.000 syrische Pfund, und wenn man 60.000 im Monat verdient ..."

  

Er sprach von dem Druck, dem die USA jedes Unternehmen und jede Person aussetzen, die mit Syrien zu tun hat, wie darauf Haft- und Geldstrafen stehen. "Sie zwingen Firmen dazu, nicht mit Syrien zusammenzuarbeiten" – eben um Syrien zu isolieren.

"Ich kenne Familien, für die ich Medikamente zu besorgen versuche, die sie selbst nicht mehr finden können. Vor einer Woche musste ich einen Mann mit zu Grabe tragen, dem wir Medikamente gebracht hatten – er ist gestorben, weil wir sie nicht mehr finden konnten! Es wurden zuletzt 90.000 syrische Pfund pro Schachtel, er brauchte vier Schachteln pro Monat. Er brauchte mehr Arzneien und eine bessere Behandlung – und wir können hier beides nicht bekommen, weil es verboten ist. Verboten – warum? Weil sie vorgeben, es sei 'doppelverwendungsfähig', vielleicht könne man es hier ja für die Armee verwenden. Und den Preis zahlen die Menschen, niemand sonst."

In einem Interview auf Syria Insider verurteilte die britische Journalistin Vanessa Beeley die Sanktionen gegen Syrien mit den Worten: 

"Die westlichen Regierungen lassen das syrische Volk verhungern. Sie nehmen ihm das Recht, nach Hause zurückzukehren, weil der Wiederaufbauprozess verzögert wird. Sie bestrafen das syrische Volk für den Widerstand des syrischen Volkes gegen das, was sie ihm auferlegen wollen. Mit der syrischen Regierung oder Präsident Assad hat das nichts zu tun."

"Nicht-tödliche Praktiken, als die sie dargestellt werden, sind Sanktionen nie und nimmer. Sie sind mit die tödlichste aller Waffen, die im hybriden Krieg gegen das Volk eines angegriffenen Landes eingesetzt werden können."

"Zur gleichen Zeit, in der die Sanktionen in Kraft sind, stiehlt der Westen das Öl, verbrennt die Lebensmittel oder schafft sie außer Syriens zum Verkauf – all das, um das syrische Volk seiner eigenen Ressourcen zu berauben, des Reichtums seines eigenen Landes."

Beeley hielt jüngst eine sehr detaillierte Präsentation mit Schwerpunkt auf die Sanktionen. Dabei hob sie deren Auswirkungen nicht nur auf Einkommen, Nahrungsmittel und Medikamente hervor, sondern auch auf Treibstoff, Industrie, Landwirtschaft, Gesundheitsversorgung und medizinische Pflege sowie auf Krankenhäuser, und auf Strom- und Wasserversorgung.

Sie bemerkte treffend: "Man könnte argumentieren, dass die US-Koalition für den Völkermord in Syrien gemäß Artikel II (c) der Völkermordkonvention verantwortlich ist – vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen."

"Die US-geführte Koalition folgt im Effekt einer Politik der kollektiven Auslöschung des syrischen Volkes mit militärischen und wirtschaftlichen Mitteln. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein Kriegsverbrechen und eine zum Himmel hoch schreiende Verletzung des Rechts auf Leben und auf ein Leben in Würde."

Im Laufe des Treffens des US-Präsidenten Joe Biden mit Russlands Staatschef Wladimir Putin könnte der Erstere vielleicht unter den vorgeskripteten Dreschphrasen auch ein künstlich-aufgeregtes "Na-na-na" oder "Du-du-du" wegen angeblicher Verhinderung "humanitärer" Hilfslieferungen nach Syrien durch Syriens Regierung und Russland hervorgebracht haben. Dieser abgedroschene, alte Allgemeinplatz wurde zwar längst als falsch entlarvt, wird jedoch immer noch von Heuchlern im Westen heraustrompetet.

Und mögen solche westlichen Vertreter, jeglicher moralischer Integrität völlig bar, Syrien und Russland auch weiterhin mit einem Vorwurf nach dem anderen bombardieren: Es ist überdeutlich, dass das Leiden der Syrer ein Erzeugnis des rechtswidrigen Kriegs gegen Syrien und der mörderischen, kriminellen Sanktionen gegen das syrische Volk ist.

Mehr zum Thema – Syrien: Russland erleichtert Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihre Dörfer in der Provinz Darʿā

Übersetzt aus dem Englischen.

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Eva Bartlett ist eine unabhängige kanadische Journalistin und Aktivistin. Sie berichtete jahrelang über Konfliktzonen im Nahen Osten, insbesondere in Syrien und Palästina (wo sie fast vier Jahre lang lebte), – direkt vom Ort des Geschehens. Ihren englischsprachigen Twitter-Kanal kann man unter @EvaKBartlett lesen und abonnieren.

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