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Kann Afrika Russland als Hauptgaslieferant der EU ablösen?

Die EU will ihre Abhängigkeit vom russischen Erdgas endgültig beenden. Doch wo soll die Energieressource dann herkommen? Wäre Afrika eine geeignete Variante? Haben die afrikanischen Gaslieferanten die Vorräte und Kapazitäten, so große Mengen in die EU zu liefern?
Kann Afrika Russland als Hauptgaslieferant der EU ablösen?Quelle: Gettyimages.ru © Getty Images / Saro17

Eine Analyse von Andrei Maslow und Wsewolod Swiridow

Im Jahr 2021 lieferte Russland etwa 45 Prozent des Erdgas-Bedarfs der Europäischen Union (EU) und pumpte rund 155 Milliarden Kubikmeter durch mehrere Pipelines gen Westen. Die EU erwägt nun offenbar, die Einkäufe von russischem Gas schrittweise abzubauen. In den letzten Wochen sind Berichte aufgetaucht, wonach eine Reihe afrikanischer Länder – wie Nigeria, Senegal und Angola – als Ersatzquellen in Betracht gezogen würden.

Der Hype um afrikanisches Gas ist sogar noch größer als der um US-amerikanisches oder Flüssiggas aus Katar, die offensichtlichere Ersatzquellen sind. Dies sei ganz einfach deshalb der Fall, weil Geschäfte mit diesen Staaten nicht viel Verhandlungsaufwand erfordern würden, während afrikanisches Gas eine ganz andere Angelegenheit bleibe.

Italienische Regierungsdelegationen haben seit Februar Algerien, Angola, Ägypten und die Republik Kongo besucht. Bislang endeten die meisten Besuche und Verhandlungen lediglich mit Ankündigungen und Absichtserklärungen. Führende Thinktanks im Energiebereich äußern hingegen eine gewisse Skepsis gegenüber den Aussichten für Gaslieferungen aus Afrika in die EU.

Wie viel Gas werden afrikanische Exporteure der EU liefern können – und wann?

Die EU importiert Gas bereits über Pipelines aus Algerien und Libyen und bezieht außerdem Flüssigerdgas (LNG) aus Algerien, Angola, Kamerun, Ägypten, Äquatorialguinea und Nigeria. Die Gesamtkapazität der afrikanischen Gasexportinfrastruktur (sowohl Pipelines als auch LNG-Anlagen) beträgt etwa 170 Milliarden Kubikmeter pro Jahr. Gleichzeitig befinden sich 125 Milliarden Kubikmeter dieser Kapazität unter der Kontrolle Algeriens, wo die jährlichen Gasexporte allmählich auf ein Niveau zwischen 40 und 50 Milliarden Kubikmetern zurückgehen. Insgesamt liegt die Auslastung der Exportkapazitäten in Afrika bei etwa 60 Prozent für LNG-Anlagen und 40 Prozent für Pipelines.

Während in Algerien das Recht, Gas zu exportieren, der staatlichen Sonatrach vorbehalten ist, wird die Exportinfrastruktur in den anderen afrikanischen Ländern in der Regel von westlichen Ölkonzernen kontrolliert, die hauptsächlich die Käuferseite vertreten, wie etwa die italienische Eni, die britische Royal Dutch Shell, die französische TotalEnergies und andere Gesellschaften. Folglich ist es fraglich, ob die afrikanischen Regierungen überhaupt in der Lage sind, die Mengen und die Richtung der Ausfuhren selbst zu beeinflussen.

Im Jahr 2021 lieferten die afrikanischen Staaten 16,6 Millionen Tonnen LNG (das entspricht etwa 23 Milliarden Kubikmeter) in die EU-Länder, weitere sieben Millionen Tonnen wurden in das Vereinigte Königreich und die Türkei geliefert, 16,7 Millionen Tonnen nach Asien und eine halbe Million Tonnen nach Lateinamerika. Trotz des Wirtschaftswachstums nach der COVID-19-Pandemie und der dynamischen Erholung der Gasnachfrage konnte Afrika seine LNG-Exporte im Vergleich zum Krisenjahr 2020 nur um zwei Millionen Tonnen steigern. Die Pipeline-Exporte aus Algerien und Libyen nach Spanien und Italien beliefen sich auf insgesamt 35 Milliarden Kubikmeter. Somit exportierte Afrika im Jahr 2021 rund 68 Milliarden Kubikmeter in die EU.

Kann Afrika seine Ausfuhren in die EU jetzt noch steigern?

Ja, das kann Afrika. Allerdings würde es sich dabei nur um kleine Mengen handeln und das Umleiten von LNG-Spotladungen von Asien in die EU erfordern. Insgesamt könnte ein solches Manöver etwa zehn Milliarden Kubikmeter pro Jahr einbringen. Allerdings müsste die EU bessere Preise bieten als die Abnehmer in Asien, im Vereinigten Königreich (das ebenfalls plant, auf russisches Gas zu verzichten) und in der Türkei – als einem der größten Importeure im Mittelmeerraum.

Die afrikanischen Gasexporteure können in zwei Kategorien eingeteilt werden: diejenigen, die über freie Exportkapazitäten verfügen (Algerien, Ägypten), aber nicht genügend eigenes Gas liefern können, und diejenigen, die zwar über Gas verfügen, aber nicht die Kapazität haben, es ordnungsgemäß zu exportieren (Nigeria, Mauretanien/Senegal und Mosambik). Algerien und Ägypten sind dabei, ihre Produktion zu steigern, der größte Teil dieses Wachstums dient jedoch der Deckung des Bedarfs ihrer heimischen Märkte (Stromerzeugung, Industrie, Düngemittelproduktion). In Mauretanien, Senegal, Mosambik und Nigeria werden Verflüssigungsanlagen gebaut, und von diesen Ländern ist mittelfristig eine Steigerung der LNG-Exporte zu erwarten.

Investitionsentscheidungen zum Bau neuer Exportanlagen in Nigeria, Mosambik und an der Grenze zwischen Senegal und Mauretanien sind bereits getroffen worden. Insgesamt werden sie bis zum Jahr 2025 bis zu 14 Millionen Tonnen LNG (ungefähr 19,3 Milliarden Kubikmeter) pro Jahr liefern. Der siebte Strang der nigerianischen LNG-Anlage wird voraussichtlich bis zu acht Millionen Tonnen pro Jahr produzieren. Das Projekt Greater Tortue von der US-amerikanischen Kosmos Energy an der Grenze zwischen Mauretanien und Senegal wird 2,5 Millionen Tonnen und das Eni-Projekt Coral South in Mosambik 3,4 Millionen Tonnen pro Jahr liefern. Die Investitionsentscheidungen für diese Projekte wurden in den Jahren 2017 bis 2019 getroffen, also lange vor der aktuellen Krise in der Ukraine.

Aber diese Energieressourcen sein nicht nur für die EU bestimmt. Nigeria verkauft traditionell 50 Prozent seines LNG in den asiatisch-pazifischen Raum, während das Projekt in Mosambik auch auf die Märkte in Indien, China und Japan abzielt. Und schließlich entsteht auch in Afrika selbst allmählich eine Nachfrage nach LNG, so dass ein Teil des Gases sogar innerhalb des Kontinents verbleiben könnte.

Die strategische Rolle Afrikas

Wenn man die russischen Lieferungen zugunsten afrikanischer Äquivalente hätte aufgeben können, hätte die EU dies vermutlich schon längst getan. Seit 2008, als der damalige lettische EU-Energiekommissar Andris Piebalgs Nigeria besuchte, um die Transsahara-Route zu erörtern, hat diese Aufgabe Priorität, und in Brüssel bemühte sich die EU-Kommission mit aller Macht, die Lieferungen aus dieser Quelle zu erhöhen, jedoch ohne großen Erfolg. Es ist fast unmöglich, mehr Gas aus Afrika herauszupressen. Der Hauptnutznießer der Weigerung der EU, sich dringend benötigtes russisches Gas liefern zu lassen, sind daher neben Katar (dessen Hauptproduzent die US-amerikanische ExxonMobil ist) ebenfalls die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch Israel, Aserbaidschan und Iran haben gute Chancen, ein Stück vom Kuchen abzubekommen.

Gleichzeitig ist und bleibt Afrika dennoch eine wichtige Energiequelle für die EU. Angesichts der anhaltenden Krise wird der Druck auf die Länder Afrikas, mehr Gas auf Kosten ihrer heimischen Märkte zu exportieren, weiter zunehmen, und westliche Großkonzerne, die Russland verlassen, werden sich auf der Suche nach einer Ressourcenbasis sicherlich Afrika zuwenden.

Die derzeitige Marktlage könnte Projekte wiederbeleben, die zuvor als unrentabel galten, darunter der Bau von Pipelines durch die Sahara von Nigeria nach Algerien, die östliche Mittelmeerpipeline oder bis zu drei neue Projekte für den Export von Flüssiggas von der ostafrikanischen Küste in Mosambik, Tansania oder Dschibuti.

Andererseits wird Gas im nächsten Jahrzehnt in vielen afrikanischen Ländern eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung des heimischen Energiesektors und der Industrie (etwa zur Herstellung von Düngemitteln, Zement und Polypropylen) spielen. Die wichtigsten Förderländer – vor allem Algerien, Ägypten und Nigeria – werden sich zwischen der Deckung der wachsenden Binnennachfrage und der Versuchung, die Ausfuhren zu steigern, entscheiden müssen.

Die Wahl der Prioritäten zwischen Exporten und Inlandsverbrauch (mehr Deviseneinnahmen oder ein größeres Angebot für den eigenen Energiesektor und die heimische Industrie) wird die Rolle Afrikas auf den Weltenergiemärkten in den nächsten 20 Jahren bestimmen. Die Aufteilung des Gases zwischen Inlandsverbrauch und Export hängt unter anderem von den Entscheidungen der Regierungen ab, die häufig unter dem Druck von Betreibern, Abnehmern und "Geber"-Ländern, also Kapitalinvestoren getroffen werden.

Regulierungsbehörden und staatliche Unternehmen in Ländern wie Mosambik und Nigeria treffen ihre Entscheidungen häufig auf der Grundlage von Empfehlungen ausländischer Berater, und diese Entscheidungen entsprechen keineswegs immer den Interessen dieser Länder selbst. Algerien und Ägypten sind bei der Entwicklung ihrer Binnenmärkte schon viel weiter und räumen ihnen Vorrang ein, doch dieselben ausländischen Berater, die in enger Allianz mit europäischen und multinationalen Unternehmen agieren, üben enormen Druck auf sie aus, um Subventionen abzuschaffen, ihre Märkte zu "liberalisieren" und staatliche Monopole aufzulösen.

Die EU hat jedoch noch eine Chance. Eine verheerende Wirtschaftskrise mit einem starken Rückgang der Stromnachfrage und -produktion in Algerien oder Ägypten würde zusätzliche Gasmengen für den Export freisetzen (wie es einst mit sowjetischem Gas geschah). Solche Krisen wären jedoch eine Tragödie und sind glücklicherweise nur ein hypothetisches Risiko.

Russland hätte eine Rolle bei der Unterstützung und Entwicklung der afrikanischen Gasmärkte spielen können. Als das Büro von Gazprom in Nigeria tätig war, verzichtete das Land auf (ruinöse) Entscheidungen über Exportprojekte und setzte auf die Zusammenarbeit mit Russland und anderen, um den heimischen Markt zu entwickeln. Es wurden jedoch keine Investitionsentscheidungen getroffen, und Nigeria kehrte zu seinen alten Gewohnheiten zurück: zum Bau neuer Verflüssigungsanlagen.

Gazprom, Rosneft und LUKOIL beteiligen sich sporadisch an Projekten zur Erkundung und Produktion (E&P) in ganz Afrika und spielen dabei mit ihren eigenen strategischen Gegnern zusammen. Wenden sie sich von diesen Projekten ab, die afrikanischen Binnenmärkte zu erschließen, würden sowohl Russland als auch Afrika davon profitieren, aber dafür gibt es noch nicht viele Anzeichen.

Übersetzt aus dem Englischen

Von Andrei Maslow, Direktor des Zentrums für Afrikastudien an der Higher School of Economics in Moskau, und Wsewolod Swiridow, Forscher bei Intexpertise, der Abteilung für Afrikastudien der Staatlichen Universität Sankt Petersburg.

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