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Deutscher Ärztetag: Schulschließungen in der Corona-Krise waren für Kinder "toxisch"

Laut dem Beschlussprotokoll des 126. Deutschen Ärztetages haben die Sorgen und Ängste von Kindern ebenso wie depressive Symptome, Essstörungen und psychosomatische Beschwerden im Zuge der Corona-Maßnahmen bedenklich zugenommen. Kita- und Schulöffnungen stellen demnach kein Pandemierisiko dar.
Deutscher Ärztetag: Schulschließungen in der Corona-Krise waren für Kinder "toxisch"Quelle: www.globallookpress.com © rolf kremming via www.imago-imag

Vom 24. bis 27. Mai tagte der 126. Deutsche Ärztetag in Bremen. Die Ergebnisse sind in einem Beschlussprotokoll online abrufbar. Gleich zu Beginn des Beschlusskapitels zum Thema "Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche" wird in der Einleitung als ein erstes Resümee unmissverständlich formuliert:

"Der 126. Deutsche Ärztetag stellt fest: Bereits vorhandene Problemlagen von Kindern und Jugendlichen wurden im Verlauf der Corona-Pandemie verstärkt und medizinische Versorgungslücken deutlicher sichtbar. In Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status werden insbesondere die psychosozialen Folgen der Corona-Pandemie für Kinder und Jugendliche auch noch in den nächsten Jahren Spuren hinterlassen."

Die anwesenden Mediziner, Pädagogen und Wissenschaftler fordern "die politisch Verantwortlichen auf Bundes- und Landesebene daher dringend auf", bei allen künftigen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung "das Wohl von Kindern und Jugendlichen ganzheitlich in den Blick zu nehmen und zu berücksichtigen". Folgende Punkte sind nach Ansicht der Mediziner und Pädagogen in künftigen Entscheidungen zu beachten und unter anderem nachstehende Maßnahmen erforderlich:

  • Pandemiebedingte flächendeckende Schließungen von Kindertageseinrichtungen und Schulen müssen künftig vermieden und dürfen nur in extremen Krisensituationen in Erwägung gezogen werden.
  • Die Stärkung und adäquate Finanzierung der Netzwerkarbeit u. a. zwischen Kinder- und Jugendmedizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Schule, Schulsozialarbeit und Jugendamt sowie Öffentlichem Gesundheitsdienst auf Landes- und kommunaler Ebene
  • Die Verbesserung und adäquate Finanzierung der stationären und ambulanten medizinischen Versorgungssituation des kinder- und jugendmedizinischen, des kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen sowie des sozialpädiatrischen Bereichs;
  • Das Wohl und die Meinung von Kindern und Jugendlichen sind bei allen sie berührenden Maßnahmen und Entscheidungen adäquat zu berücksichtigen sowie umfassende Sofortmaßnahmen zu finanzieren.

Zudem sei die Einbeziehung "der Expertise der Kinder- und Jugendmedizin sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie" in die Einrichtung eines Expertenrats mit dem Auftrag, konkrete Maßnahmen für die Bundes- und Landesebene zu entwickeln, zu berücksichtigen.

Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), stellte in seiner Rede auf dem Ärztetag fest, dass "vieles in den Zeiten der flächendeckenden Kita- und Schulschließungen in der ersten und zweiten Coronawelle auf der Strecke geblieben" sei. Das Beschlussprotokoll hält zudem fest:

"Insbesondere rückblickend lässt sich feststellen, dass die Coronavirusschutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche vornehmlich dem Schutz der älteren Generation und bestimmter vulnerabler Gruppen dienten. Die Pandemie belastete Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichsten Gründen besonders stark und aufgrund der sensiblen Entwicklungsphasen dieser Lebensabschnitte in besonderer Weise." 

Bezüglich möglicher Krankheitsrisiken von Kindern und Jugendlichen bei Corona-Infektionen fasst das Protokoll Folgendes zusammen:

"Untersuchungen belegen inzwischen, dass eine durch SARS-CoV-2-Infektion resultierende COVID-19-Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen ohne relevante Vorerkrankungen zum ganz überwiegenden Teil mild verläuft."

Dennoch müsste die "heranwachsende Generation daher auch künftig vor Infektionen geschützt werden". Die wissenschaftlichen Analysen zu den Folgeerkrankungen und Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter durch die Pandemie seien dabei noch nicht abgeschlossen. Einen umfassenden Blick auf die Auswirkungen der Pandemie-Maßnahmen auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gab Prof. Dr. Martin Holtmann, Direktor der Universitätsklinik Hamm für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Das Ärzteblatt zitiert Holtmann mit der Feststellung:

"Der erste Lockdown ab März 2020, der rund sieben Wochen dauerte, sei für die meisten Kinder und Jugendliche noch spannend gewesen. Sie hatten plötzlich schulfrei und dachten, nach den Osterferien sei alles wieder normal. Der zweite Lockdown ab Dezember 2020, der rund sieben Monate dauerte, haben den meisten hingegen chronischen Stress verursacht, erläuterte der Kinder- und Jugendpsychiater. 'Die Schulschließungen waren für die meisten Kinder toxisch.'"

Laut Holtmann zeigt sich "ein deutlich höheres Level an psychischen Belastungen als vor der Pandemie". Weiter heißt es im Artikel:

"Depressionen werden deutlich häufiger diagnostiziert. Bei Essstörungen sei ein Anstieg von 30 bis 40 Prozent zu verzeichnen. Auch Angst- und Zwangserkrankungen hätten zugenommen. Im Auge behalten müsse man auch die dysfunktionale Mediennutzung, die in der Pandemie angestiegen sei. Verdoppelt habe sich insbesondere bei den Jungen die Medienabhängigkeit. Zugenommen hätten seit Sommer 2021 auch die akuten Notfälle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, ebenso seien mehr stationäre Einweisungen zu verzeichnen."

Das Beschlussprotokoll hält diesbezüglich fest (Seite 259):

"Pandemiebedingte flächendeckende Schulschließungen müssen aus Sicht der Ärzteschaft daher künftig aus dem Maßnahmenkatalog zur Pandemiebekämpfung entfallen."

"Monatelang fehlender Präsenzunterricht, Homeschooling, die Reduzierung bzw. das Verbot von Sport- und Freizeitangeboten und hieraus resultierender übermäßiger Medienkonsum, Änderungen im Ernährungs- und Bewegungsverhalten, die Auseinandersetzung mit Tod und Krankheit von Angehörigen, aber auch Arbeitsplatzverlust und existenzielle Ängste der Eltern" würden zurückblickend wie auch gegenwärtig einen starken negativen Einfluss auf die Entwicklung von Heranwachsenden darstellen. Studien belegen demnach aktuell "eine deutliche Zunahme psychischer Auffälligkeiten und Erkrankungen in dieser Altersgruppe".

Bereits vor der Pandemie erkennbare und bestehende Defizite "insbesondere bezüglich Gewaltschutz (Kindesmisshandlung, -vernachlässigung, häusliche Gewalt), der Bekämpfung von Kinderarmut und dem Zugang zu Bildung für alle Kinder" wurden laut dem Deutschen Ärztetag "im Verlauf der Pandemie verstärkt und die verschiedenen Problemfelder deutlich sichtbar". So heißt es im Protokoll:

"Aus Sicht der Ärzteschaft ist es zudem dringend erforderlich, dass die politisch Verantwortlichen einen besonderen Fokus zugleich auf Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien richten, um gesellschaftliche Fehlentwicklungen und eine weitere Verstärkung sozialer Ungleichheiten abzumildern."

Die ernüchternde Zusammenfassung lautet daher (Seite 262):

"Es ist weithin bekannt, wie sehr Kinder und Jugendliche unter den Auswirkungen der Pandemie gelitten haben und noch immer leiden. Dieser Zustand wurde zwei Jahre lang in Kauf genommen, um vulnerable Gruppen zu schützen. Vulnerabilität jedoch ist kein einseitiger Begriff – er darf auch im Rahmen einer Pandemie nicht nur infektiologisch gedacht werden."

Besonders gut seien diejenigen durch die Pandemie gekommen, die ein Elternhaus mit einem guten Familienklima und enge Bezugspersonen hatten. Auch wenn die beschriebenen Fehlentwicklungen seit Jahren diskutiert werden, haben sie doch gerade unter dem "Brennglas der Corona-Pandemie" eine noch deutlichere Ausprägung erfahren. Dr. Annic Weyersberg, Sprecherin von COVerCHILD (Kinder und Jugendliche in der Pandemie), wies laut dem Ärzteblatt-Artikel auf "die erheblichen Auswirkungen der Schul- und Kitaschließungen für die Bildung und das spätere Berufsleben der Kinder und Jugendlichen" hin. Durch den ausgefallenen Unterricht während der Schul- und Kitaschließungen sei "die Lesefähigkeit der Schüler deutlich zurückgegangen, ebenso wie die Mathematikkompetenz". Der Anteil an leistungsschwachen Schülern habe sich vergrößert:

"Dieser Rückstand wird nicht mehr aufgeholt werden können."

Weyersberg erläuterte, dass die Folgen dieser Bildungsdefizite in "verminderten Arbeitsmarktchancen im späteren Leben vorzufinden sein werden". "Bereits der Verlust von einem Drittel eines Schuljahres" führe zu einem "geminderten Einkommen über das gesamte Berufsleben hinweg". Viele der Aufholmaßnahmen erreichten besonders bedürftige Kinder und Jugendliche nicht mehr. Die COVerCHILD-Sprecherin moniert:

"Kinder und Jugendliche haben in der Pandemie massive Grundrechtseinschränkungen erlebt, ohne dass ihnen eine Partizipation an den Entscheidungen ermöglicht wurde. Die öffentlichen Debatten seien nur aus der Perspektive von Erwachsenen geführt worden. Wissenschaftlich und ethisch hätten die Einschränkungen der Grundrechte der Kinder begründbar sein müssen."

Wegen des erheblichen Anstiegs des Bedarfs an therapeutischen Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche bestünden "praktisch überall Wartezeiten bis zu neun Monaten" (Seite 270). Die an die Politik gerichtete Forderung der Abgeordneten des 126. Deutschen Ärztetages lautet daher, dass "die vielfältigen, im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie benötigten therapeutischen Angebote für Kinder und Jugendliche sowohl im stationären Setting wie auch im ambulanten Bereich als auch in den vielen öffentlichen Unterstützungsmaßnahmen (Gesundheitsämter, Jugendhilfe ...)" zumindest "für die nächsten zwei Jahre" deutlich erweitert werden müssten.

Im Resümee des Beschlussprotokolls zu den Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf definierte Teile der Gesellschaft heißt es:

"Die gesundheitliche Last dieser Lockdown-Maßnahmen wurde im Wesentlichen von folgenden Gruppen getragen: Ältere, Pflegebedürftige, chronisch Kranke, Menschen mit Behinderung, Kinder und Jugendliche. Zu den Folgen des Lockdowns für diese Gruppen zählen u. a. starke psychische Belastungen aufgrund sozialer Isolation und Vereinsamung, sogar bei sterbenden Menschen, Entwicklungsdefizite, Essstörungen (Magersucht, Bulimie, Adipositas), Substanzabhängigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten u. v. a. m."

Als physische Folgen werden u. a. "eine Verstärkung von Funktionsverlusten (Mobilität), Gewichtszunahmen aufgrund von Bewegungsmangel sowie ein Anstieg von Demenzerkrankungen infolge von Kontaktbeschränkungen, sozialer Isolation und Bewegungsreduktion angenommen".

Die Anzahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Gesundheitsprobleme erreichte in der COVID-19-Pandemie laut dem Beschlussprotokoll "einen neuen Höchststand". 

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