Interview: Das Potential von Genossenschaften in der Wohnraumfrage und bei der Energiewende
Herr Flieger, was hat Sie dazu gebracht, sich seit vielen Jahren für genossenschaftlich organisierte Unternehmen zu engagieren?
In meinem Studium habe ich mich intensiv mit der Mitbestimmung in der Wirtschaft befasst. Ich fand, dass diese für die Betroffenen zu wenig Einflussnahme auf das Wirtschaftsleben ermöglicht. Bei meiner Suche nach Alternativen bin ich auf die Genossenschaften gestoßen. Genossenschaften haben mich fasziniert, weil in diesen die Entscheidungen nicht nach der Höhe der Einlage getroffen werden, sondern im wichtigsten genossenschaftlichen Gremium, der Generalversammlung. Dort hat jedes Mitglied eine Stimme.
Worin unterscheiden sich Genossenschaften hauptsächlich von anderen Wirtschaftsunternehmen?
In Deutschland werden Genossenschaften überwiegend als Rechtsform begriffen. Es handelt sich dabei aber um eine Organisationsform in der Wirtschaft. Als Genossenschaft kann sie nur bezeichnet werden, wenn sie die folgenden vier Grundprinzipien umsetzt:
- Das Demokratieprinzip: Jedes Mitglied hat eine Stimme.
- Das Identitätsprinzip: Alle Mitglieder sind Eigentümer und Nutzer der Leistung. Zum Beispiel in einer Wohnungsgenossenschaft sind die Mitglieder Eigentümer und Mieter zugleich.
- Das Förderprinzip: Unternehmensziel ist nicht das Erwirtschaften von Gewinnen, sondern der Nutzen – die Förderung – der Mitglieder. Das Förderprinzip ist sogar ausdrücklich im deutschen Genossenschaftsgesetz verankert. In der Wohnungsgenossenschaft wird die Förderung der Mitglieder beispielsweise über die Bereitstellung von preisgünstigem, sicherem Wohnraum in guter Nachbarschaft verwirklicht.
- Das Solidaritätsprinzip: Die Mitglieder unterstützen sich gegenseitig und bleiben der Genossenschaft auch in Krisenzeiten treu. Dazu gehört aber auch, dass die Mitglieder beim Austritt nur ihre Einlage zurückbekommen. Sie werden also nicht darüber hinaus an den Immobilienwertsteigerungen beteiligt. Rechtlich lassen sich diese Prinzipien am einfachsten in der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft verwirklichen. Sie können aber auch in anderen Rechtsformen umgesetzt und abgesichert werden.
Worin sehen Sie die größten Vorzüge von Genossenschaften für die Menschen in einem Sozialraum?
Dieser wichtige Aspekt wurde von dem Genossenschaftspionier Friedrich Wilhelm Raiffeisen formuliert – das sogenannte Kirchturmprinzip. Das bedeutet, Genossenschaften werden als soziale Gemeinschaften am besten dort wirksam, wo ein gemeinsames kulturelles, soziales und örtliches Gemeinschaftsgefühl vorhanden ist.
Und wo es sich um eine überschaubare Anzahl von Menschen handelt, zum Beispiel vergleichbar mit der Größe einer Kirchengemeinde?
Genau, das meinte er damit.
Können Wohnungsgenossenschaften das Problem des Wohnraummangels und der steigenden Mieten lösen?
Kurzfristig gesehen nicht, weil die aktuellen Mietpreise im Neubau zumindest zum Teil durch die hohen Grundstückspreise und Baukosten entstehen. Aber durch das Solidaritätsprinzip – die Wertsteigerungen bleiben in der Genossenschaft, so dass nicht jede Mietergeneration das Vermögen der Genossenschaft durch die Mieten wieder neu aufbringen muss – entstehen mittelfristig Mietpreisbremsen. Auch der fehlende Zwang zur Gewinnoptimierung wirkt preisstabilisierend. Schließlich sind die Mieter die Eigentümer und keine Investoren.
Für Kommunen macht es besonders im sozialen Wohnungsbausektor Sinn, an Genossenschaften preisgünstigere Baugrundstücke zu vergeben oder ihnen eine Entlastung bei den Bauauflagen zu gewähren. Aufgrund ihrer organisatorischen Besonderheiten entstehen bei neuen Genossenschaften vielfach solidarische Gemeinschaften, die sich in Neubaugebieten sozialintegrierend auf das gesamte Wohnumfeld auswirken. Zur Stabilisierung trägt zusätzlich bei, dass für die Mitglieder das Dauernutzungsrecht gilt. Die Bewohner bekommen ein sicheres lebenslanges Wohnrecht.
Preisgünstiger wird Wohnen in neuen genossenschaftlichen Gemeinschaftsprojekten auch dadurch, dass viele von ihnen Gemeinschaftseinrichtungen betreiben, wie Kinderspielräume, Gästezimmer, Bastel- oder Partykeller und anderes. Dadurch muss nicht jeder Platz für diese Bedürfnisse in seiner eigenen Wohnung einrichten. Der eigentliche Wohnraum kann kleiner sein und gleichzeitig stärken solche Räume den Gemeinschaftsgeist.
Wie verbreitet sind Bürgerenergiegenossenschaften und wie können Sie zur sogenannten Energiewende beitragen?
Die Gründungswelle der neuen Energiegenossenschaften war die größte genossenschaftliche Bürgerbewegung nach 1945. Aufgrund der Politikverdrossenheit gab es ab dem Jahr 2000 viele Bürgerinitiativen, die die Energiewende selbst in die Hand nehmen wollten. Durch die Einspeisevergütungen über das Erneuerbare-Energien-Gesetz wurden sie zusätzlich motiviert. Außerdem sind Genossenschaften davon befreit, ein aufwendiges Prospekt für das Einsammeln von Kapital erstellen zu müssen, unter anderen weil sie regelmäßig durch einen genossenschaftlichen Verband geprüft werden.
Zwischen den Jahren 2006 und 2012 sind so circa 1.000 Energiegenossenschaften entstanden. Die meisten verwirklichen dezentrale Energiekonzepte mit dem Schwerpunkt Photovoltaik.
Also, anstelle von Großkonzernen wurden hier die Bürger die Eigentümer von kleinen, in ihrer Region aktiven Energieunternehmen?
Genau, aber diese Entwicklung hat im Jahr 2012 der damalige CDU-Bundesumweltminister Peter Altmaier massiv gestoppt. Er legte im Oktober 2012 seinen Vorschlag zur Neuregelung des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes vor. Die massive Kürzung der Einspeisevergütung führte dazu, dass der Bau von Photovoltaikanlagen nicht mehr kostendeckend war. Das brachte die dezentrale Energiewende mittels genossenschaftlicher Unternehmen zum Erliegen. Auch die wachsenden Auflagen und eine extensive Bürokratisierung erschwerten erheblich den weiteren Ausbau der Erneuerbaren Energien durch die Bürger.
Zurzeit versuchen noch etwa ein Viertel der bestehenden Energiegenossenschaften neue Konzepte zum Klimaschutz voranzutreiben. Sie engagieren sich in den Bereichen Elektromobilität, E-Car-Sharing und in der ökologischen Stromversorgung mit ihrer gemeinsamen Dachgenossenschaft, der Bürgerwerke eG. Knapp 200 sind auch im Bereich der Nahwärmeversorgung erfolgreich tätig.
Was steht aktuell der Gründung von mehr Genossenschaften im Weg?
Grundsätzlich werden Genossenschaften durch die absurde Forderung der Gleichbehandlung der Unternehmen von der Politik in vielen Fällen benachteiligt. Dabei dürfte man gemeinschaftliche Selbstversorgung steuerlich nicht wie gewinnorientiertes Wirtschaften behandeln. Zudem erhalten Genossenschaften in der Regel keine Gründungsförderung von der KfW – Kreditanstalt für Wiederaufbau – für ihre Unternehmensgründungen.
Es ist auch ein Unding, dass die für Genossenschaften vorgeschriebene gesetzliche Rücklage von diesen wie ein ausgeschütteter Gewinn beziehungsweise ein Wertzuwachs bei einem Kapitalunternehmen versteuert werden muss. Denn die Mitglieder haben davon keinen direkten wirtschaftlichen Vorteil. Die Rücklage dient nur der Risikoabsicherung der Genossenschaften, welche schließlich über kein festes, gleichbleibendes Eigenkapital verfügen.
Genossenschaften werden bei Zeitbankansätzen und anderen Abrechnungsformen gemeinschaftlicher Selbsthilfe oder bei besonderen Formen der Mitgliederförderung wie einem besonderen Mitgliederrabatt von Finanzbehörden allzu schnell mit dem Verdacht der verdeckten Gewinnausschüttung konfrontiert. Experimente und Innovationen mit neuen Formen der solidarischen, genossenschaftlich organisierten Nachbarschaftshilfe ohne Gewinnabsicht werden so erheblich behindert.
Herr Flieger, regelmäßig bieten Sie Seminare und Vorträge zum Thema Genossenschaften an. Was können die Teilnehmer dabei erfahren?
In Deutschland sind Kenntnisse über das Potential von Genossenschaften, über die vielfältigen Ausgestaltungsmöglichkeiten und die unterschiedlichen Genossenschaftsverbände wenig verbreitet. Aus diesem Grund biete ich zweitägige branchenbezogene Gründungsworkshops an. Eine große Nachfrage gibt es zum Beispiel von energiegenossenschaftlichen Initiativen, die mit kalter Nahwärme in Neubaugebieten eine klimaneutrale Energieversorgung sicherstellen wollen. Solche Seminare, auch für Sozialgenossenschaften oder genossenschaftlich organisierte Nachbarschaftshilfe, sind regelmäßig ausgebucht.
Informationen zu Seminaren lassen sich unter anderen auf der Webseite des Bundesvereins zur Förderung des Genossenschaftsgedankens e.V. finden.
Vielen Dank für das Gespräch!
(Das Interview führte Felicitas Rabe)
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