"Ich gab mich als Anhänger von Poroschenko aus" – Wie die prorussischen Ukrainer leben
Eine Reportage von Filipp Prokudin
"Sagen Sie ihm bitte, dass er aufhören soll, uns 'Schduns' zu nennen. Wir warten auf niemanden, wir sind für Russland", bittet eine Frau in einem der Höfe der Stadt Tokmak im Gebiet Saporoschje. Die um sie versammelten Menschen, vor allem Frauen mit Kindern, nicken zustimmend.
Die Bezeichnung Schdun, zu Deutsch "ein Wartender", geht auf die Skulptur Homunculus Loxodontus zurück. In der Ukraine wird sie für Menschen verwendet, die mit der jeweiligen Gegenseite sympathisieren und auf die Ankunft der entsprechenden Truppen warten. "Er" ist ein im Haus einquartierter russischer Freiwilliger. Zunächst war er den Bewohnern des Hofs gegenüber misstrauisch und nannte scherzhaft einen von ihnen Schdun.
"Wir wissen doch, dass er uns beschützt! Und wenn die da kommen, sind wir als Erste dran", fährt die Frau fort und macht eine Handbewegung in Richtung Front.
Was genau "die da", also ukrainische Truppen und Nationalbataillone machen würden, wenn sie in die Stadt kommen würden, erklären die Bewohner von Tokmak nicht. Es ist auch so klar: Geschichten von Menschen, die in den Gebieten Kiew und Charkow oder in Cherson zurückblieben, wurden für Viele zu einem regelrechten Albtraum.
Alexei (Name auf eigene Bitte geändert) räumt dagegen ironisch ein, dass er ein echter "Schdun" sei. Freilich wartet er auf die russische Armee in seiner Heimatstadt Charkow. Er tue alles, um keinen Verdacht zu erwecken. Nach außen für Fremde sei er ein idealer "Kochtopfkopf" (so nennt er selbst die Unterstützer des jetzigen Regimes in der Ukraine): meinungsstark, brüsk, kompromisslos.
"Man lebt wie ein Undercover-Agent. Wenn man die negative Energie loswerden will, tut man etwas ganz Verrücktes. Ich gab mich als Anhänger von Poroschenko aus. Denn die Geheimdienste schicken ständig ihre Agenten, die versuchen, einem seine offene Meinung abzulocken. Alle haben es längst verstanden und brechen solche Gespräche ab. Von außen wirkt es, als würden alle die Ukraine unterstützen, doch in Wirklichkeit haben sie Angst, an einen Provokateur zu geraten. Solche wie ich sind etwa 70 Prozent, ungefähr die Wählerschaft von Wladimir Selenskij. Diejenigen, die für ihn stimmten und betrogen wurden", erklärt er den Anschein des Zusammenhalts der ukrainischen Gesellschaft.
Freilich gebe es auch aufrichtige Unterstützer der ukrainischen Regierung.
"Militärs, die von der Front zurückkommen, sind am stärksten zugeschweißt und glauben am meisten der Propaganda. Mit denjenigen, die auf die eine oder andere Weise mit Kampfhandlungen verbunden sind, muss man ernsthaft arbeiten, wenn Russland gewinnt", meint Alexei.
Auch mit einem Teil der Jugend müsse gearbeitet werden. Während die ältere Generation die Lage adäquat betrachtet, glauben viele junge Menschen der Propaganda der Kiewer Regierung, führt er aus. Doch selbst unter der Jugend seien die Anhänger der jetzigen Regierung in der Unterzahl.
"Menschen in der Ost- und Zentralukraine verstehen hervorragend, dass nur Russland uns braucht", erklärt Alexei die Motive der schweigenden prorussischen Inhaber von ukrainischen Pässen und betont nochmal:
"Egal wie es endet, uns braucht niemand außer Russland."
Auch Maxim hat gewartet. Er wartete auf eine Rückkehr in seine Heimatstadt Sewerodonezk. Sein Warten hatte ein Ende, nachdem er mit den siegreichen Truppen der Lugansker Volksrepublik dorthin zurückgekehrt war, wo er noch vor dem Maidan gegen den ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU gekämpft hatte – und zwar als Offizier des ukrainischen Innenministeriums. Er diente bei der Miliz und kämpfte gegen den Drogenhandel, der nach seinen Angaben vom SBU gedeckt wurde.
"Wir eröffneten ein Verfahren gegen einen Dealer, und dann wurde es uns verboten. Die SBU-Leute deckten einfach ihr Geschäft. Formal sagten sie aber, dass der Drogendealer ihr Agent sei", beschreibt er die Arbeitsmethoden des ukrainischen Geheimdienstes.
Nach mehreren Kämpfen kam Maxim wieder in seine Heimat und wurde wieder zu einem Ermittler. Inzwischen bekämpft er neben Drogen auch die Folgen von acht Jahren, die er als Besatzung bezeichnet. "Manch einem wurde schon eine Gehirnwäsche verpasst", beschreibt er das Verhalten seiner Landsleute. Doch auf Viele wirkte der Frühling und Sommer 2022 ernüchternd. Auf dem Rückzug schonte die Ukraine ihre Bürger nicht. Das Verhalten der ukrainischen Streitkräfte wurde zur besten Gegenpropaganda.
Beim Rückzug aus Sewerodonezk verhielten sich ukrainische Militärs genauso wie in anderen Städten, beschossen Häuser und plünderten Geschäfte. Die Plünderungen seien nicht chaotisch, sondern organisiert und gewitzt gewesen. "Sie brachen in ein Geschäft ein, gaben irgendwelche Produkte an die Zivilisten, machten davon Fotos und Videos. Es sollte so aussehen, dass die Zivilisten angeblich aus Ausweglosigkeit das Essen nehmen würden. Dann vertrieben sie die Leute und steckten schon ordentlich ein, sie leerten alles", beschreibt Maxim die Taktik des ukrainischen Militärs im Informationskrieg.
Es habe auch größere Vorfälle gegeben. So sei beim Rückzug der ukrainischen Truppen der Eingang zum Einkaufszentrum "Jazz" von einem Schuss zerstört worden. Maxim ist sich sicher, dass ukrainische Militärs gezielt schossen. "Früher gab es hier eine ganze Reihe von Juweliergeschäften. Also wurden sie geplündert", vermutet er.
Auch wenn die Ukraine Sewerodonezk verlor, versuchen ukrainische Geheimdienste, weiter in der Stadt zu arbeiten.
Einige naive "Schduns" werden als Agenten ausgenutzt, allerdings als wegwerfbare. Für eine bescheidene Entlohnung versuchen die "Patrioten", Aufklärungsdaten an ukrainische Geheimdienste weiterzuleiten. Sie werden fast augenblicklich gefasst.
"Für 300 Griwna [umgerechnet knapp 7,50 EUR] und ein Foto bekommen sie um die 15 Jahre. Das ist der Preis für ihren … sagen wir, Klugheitsmangel. Und die Kuratoren vergessen sie schnell. Für sie sind es ohnehin Separatisten, Menschen dritter Klasse. Sie nutzen sie aus und vergessen sie, niemand trauert ihnen nach", erklärt Maxim.
Der Ermittler beschreibt seine Arbeit weiter:
"Gewöhnlich fangen wir ehemalige Kämpfer der Territorialverteidigung, die ihre Waffen verstecken, oder Drogenhändler. Einmal stießen wir auf eine ganze Kryptowährungs-Mining-Farm! Wir kamen, begannen die Durchsuchung und fanden hinter dem Tresor den Ausweis eines Mitarbeiters der ukrainischen Geheimdienste, der dem Wohnungseigentümer gehörte. Das heißt, er, ein Offizier, zog während der Kämpfe in die LVR, blieb hier und beschloss, Kryptowährung zu minen", lächelt Maxim.
Kadermitarbeiter von ukrainischen Geheimdiensten und Agenten, die sich aus Dummheit in ein Spiel hineinziehen lassen, das ihr Leben zerstören kann, sollten bekämpft werden, meint Maxim. "Was die gewöhnlichen 'Schduns' angeht, werden sie in ihrer Masse nach einem Sieg Russlands selbst vergessen, dass sie auf jemanden warteten, und sich selbst einreden, dass sie schon immer in einem einigen Land leben wollten", resümiert der Ermittler.
Übersetzt aus dem Russischen.
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