Europa

Briten in Angst: Die Kampagne "Die-Russen-kommen!" ging wohl doch zu weit

Hochrangige britische Beamte behaupten seit geraumer Zeit, dass ein Krieg mit Russland bevorstehe. Im Vorfeld der kommenden Wahlen scheint die gezogene "Russen-Karte" jedoch das genaue Gegenteil dessen hervorzurufen, was die Konservativen im Vereinigten Königreich sich erhofft hatten.
Briten in Angst: Die Kampagne "Die-Russen-kommen!" ging wohl doch zu weit© AP Photo/Alberto Pezzali

Von Wladimir Kornilow

"Die Russen kommen!" – In dem Jahrhundert, in dem dieses Standard-Schreckgespenst zum ersten Mal verwendet wurde, hatte der Westen noch nie eine wirksamere Strategie entwickelt, um Wahlen zu gewinnen. In Albion wurde die Losung erstmals im Jahr 1924 eingesetzt, als das konservative Establishment den gefälschten "Sinowjew-Brief" erfand, um die erste Labour-Regierung stürzen zu können. Und nun, genau hundert Jahre später, stehen die Tories in Großbritannien am Beginn eines weiteren Wahlkampfes und wenden dasselbe Spielchen an. Allerdings haben sie es sogleich übertrieben und sind auf eine unfassbare öffentliche Reaktion gestoßen.

Die hysterische Welle wurde von Großbritanniens Verteidigungsminister Grant Shapps ausgelöst, der nun seit Weihnachten von der angeblichen "russischen Bedrohung" spricht, welcher Großbritannien "um jeden Preis" entgegentreten müsse. Dann prophezeite er einen unvermeidlichen Krieg gegen Russland, China oder Iran "in den nächsten fünf Jahren" und forderte die Öffentlichkeit auf, sich darauf vorzubereiten. Und von da an nahm die Sache noch mehr an Fahrt auf.

Die mediale Aktivität des Verteidigungsministers ist verständlich. Es steht kaum in Zweifel, dass im Herbst Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland anstehen. Nach den Umfragen zu urteilen, verliert Shapps, der seit 2005 alle Wahlen in seinem Wahlkreis mit einem komfortablen Vorsprung gewonnen hatte, dieses Mal wohl deutlich gegen seinen Labour-Rivalen. Das bedeutet, dass er ab Herbst nicht nur den Ministersessel verlieren wird (niemand zweifelt an der Niederlage der Konservativen), sondern aus der großen Politik gänzlich herausfallen wird. Er versucht also alles, um gerade jetzt die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen.

Doch zu seinem Entsetzen wurde dieses Narrativ auch von der Armee aufgegriffen. Letzte Woche hielt der ranghöchste Offizier der britischen Streitkräfte, der Generalstabschef General Patrick Sanders, eine feurige Rede über die Tatsache, dass Großbritannien auf einen Bodenkrieg mit Russland gar nicht vorbereitet sei. Er forderte die britische Führung auf, aus den Fehlern von 1914 und den 1930er Jahren zu lernen und nicht auf den Ausbruch eines Krieges zu warten, sondern sich bereits im Vorfeld auf die Abwehr einer "drohenden Aggression" vorzubereiten. Unter Verweis auf das Beispiel der Ukraine schloss der General seine Rede mit den Worten: "Reguläre Armeen beginnen Kriege, Bürgerarmeen gewinnen sie!"

Offen gesagt ist nicht klar, warum ausgerechnet das Beispiel der Ukraine diese Schlussfolgerung stützt. Sanders verweist auf die Erfahrungen mit dem Aufstellen und der Ausbildung der ukrainischen Territorialverteidigung. Doch selbst beim stärksten Bemühen ist es schwierig, Anzeichen für einen "Sieg" der ukrainischen Streitkräfte zu finden, wenn sogar Passanten, die auf der Straße aufgegriffen werden, um dann gewaltsam an die Front geschickt zu werden. Dennoch konnte der britische Kommandeur dem Ganzen etwas Positives abgewinnen.

Dabei hatte der General ja lediglich das Motto "Die Russen kommen" von seinem Minister übernommen. Mehr noch: Er wiederholte sogar die These aus seiner eigenen Rede vom letzten Jahr, Großbritannien befinde sich heute in der Lage wie im Jahre 1937. Vor einem Jahr hatte allerdings der Wahlkampf noch nicht begonnen, deshalb schenkten nur wenige Menschen dieser Rede Beachtung. Jetzt aber wird das alles ganz anders wahrgenommen.

Sir Richard Shirreff, General a. D., der einst stellvertretender Befehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa war, hat Sanders seine Unterstützung ausgesprochen. Er schrieb einst ein bescheidenes Buch, in dem er einen Krieg zwischen dem Westen und Russland irrtümlich sogar bereits für 2017 vorhersagte. Seitdem ist er besessen von dem Thema eines unvermeidlichen Krieges gegen die Russen. Sanders auf den Fersen, forderte er sofort die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Großbritannien, "um Russland Angst zu machen". Wie sonst könnte man Russland auch Angst einjagen?

Und die künftige britische "Bürgerarmee" fand sofort ihren ersten Freiwilligen. Der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson schrieb eine Kolumne in der Zeitung Daily Mail, in der er seine Bereitschaft zum Ausdruck brachte, sich freiwillig zu melden, und fügte der Online-Version des Artikels ein entsprechendes Video im Stil vom braven Soldaten Schwejk hinzu. Gleichzeitig fand er das perfekte Rezept, um weitere Freiwillige zu gewinnen: Heben Sie einfach das Verbot von Tätowierungen in der Armee auf! Den Briten wird allen Ernstes erzählt, dass dies das einzige Hindernis für die Rekrutierung von Freiwilligen sei.

Doch solche Erklärungen haben eine gegenteilige Reaktion hervorgerufen und die Öffentlichkeit vielmehr sichtlich erschreckt. Selbst in konservativen Zeitungen finden sich jetzt Karikaturen, die die Idee der Wehrpflicht ins Lächerliche ziehen. Und der Feuilletonist Giles Coren schlug in The Times unter der Überschrift "Die Russen kommen" vor, dass in London die vielen Baristas für einen Krieg mit Russland vorbereitet werden könnten, indem sie ihr Fachwissen über das Mixen von Cocktails auch mal zur Herstellung von Sprengstoff einsetzen. Er selbst äußerte jedoch seine Ablehnung, in einen Krieg gegen die Russen zu ziehen. Laut einer Umfrage des Daily Star sind 90 Prozent der Briten wie Coren nicht bereit, sich für einen Dienst in der "Bürgerarmee" zu melden. Und ein Zuschauer, der in ein britisches Fernsehstudio zugeschaltet wurde, als diese Idee gerade diskutiert wurde, fragte zaghaft: "Kann ich in der Bürgerarmee aus der Ferne, von zu Hause aus, dienen?"

Natürlich passt eine solche öffentliche Reaktion nicht in die Pläne der Tories. Als sie merkten, dass sie es mit der Propagierung einer weiteren "russischen Bedrohung" übertrieben hatten, beeilten sich die Regierungsvertreter zu erklären, dass sie nicht die Absicht hätten, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Allerdings muss man die Besonderheit des Augenblicks erkennen. Die Konservativen befinden sich in einer mehr als verzweifelten Lage. Es geht nicht mehr um ihren Sieg, an den sie selbst nicht glauben. Es geht um das Überleben der konservativen Partei als solche nach den bevorstehenden Wahlen.

Die Erfahrung der letzten hundert Jahre zeigt, dass die Tories in solchen Krisenmomenten nie etwas Besseres gefunden haben, als eine weitere Kampagne "Die Russen kommen" zu starten. Das bedeutet, dass wir mit noch weitaus schwerer wiegenden Fakes und Provokationen rechnen können, als es vor genau hundert Jahren mit dem berüchtigten "Sinowjew-Brief" der Fall war.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst am 29. Januar 2024 auf RIA Nowosti erschienen.

Wladimir Kornilow ist ein sowjetischer, ukrainischer und russischer Politologe, Geschichtswissenschaftler, Journalist, Schriftsteller und gesellschaftlicher Aktivist. Er ist zudem politischer Beobachter bei der russischen Internationalen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja.

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