Nahost

Warum die USA diesen Krieg in Gaza brauchen

Die Herrschenden in Washington müssen den Krieg im Gazastreifen – gegen Iran – gewinnen, weil sie offenbar den Krieg in der Ukraine gegen Russland nicht gewinnen konnten. Um auch nur einen Rest seines früheren Ruhms zu bewahren, braucht der Hegemon einen Sieg Israels in Gaza, möglicherweise um jeden Preis.
Warum die USA diesen Krieg in Gaza brauchenQuelle: Gettyimages.ru © Denise Bush

Von Pepe Escobar

Der globale Süden erwartete den Anbruch einer neuen arabischen Realität. Schließlich haben die Proteste auf arabischen Straßen gegen Israels Massaker an den Palästinensern im Gazastreifen für Furore gesorgt – auch wenn sie in diesen Ländern unterdrückt werden.

Die arabischen Staats- und Regierungschefs sahen sich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, die über die Suspendierung einiger diplomatischer Vertretungen  Israel betreffend hinausgingen, und beriefen einen Sondergipfel der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ) ein, um den andauernden israelischen Krieg gegen palästinensische Kinder zu diskutieren.

Vertreter von 57 muslimischen Staaten kamen am 11. November in Riad zusammen, um einen ernsthaften und praktischen Schlag gegen die Urheber und Vollstrecker des Völkermordes zu führen. Doch am Ende wurde gar nichts angeboten, nicht einmal ein Trostpflaster.

Die Abschlusserklärung der OIZ wird für immer im goldenen Palast der Feigheit verewigt sein. Ein Höhepunkte der geschmacklosen rhetorischen Darstellung lautete: Wir sind gegen Israels "Selbstverteidigung"; wir verurteilen den Angriff auf Gaza; wir fordern (wen?) auf, keine Waffen an Israel zu verkaufen; wir fordern den Scheinjustiz am IStGH auf, Kriegsverbrechen zu "untersuchen"; wir fordern eine UN-Resolution, die Israel verurteilt.

Für das Protokoll kann man festhalten: Das ist das Bestmögliche, was 57 Länder mit muslimischer Mehrheit als Reaktion auf diesen Völkermord des 21. Jahrhunderts zustande brachten.

Auch die Geschichte, die von den Siegern geschrieben wurde, neigt jedoch dazu, Unversöhnlichkeit gegen Feiglinge zu zeigen.

Die vier größten Feiglinge sind in diesem Fall Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Marokko – wobei die drei letztgenannten Länder ihre Beziehungen zu Israel unter dem Druck der USA im Jahr 2020 normalisiert hatten. Sie sind diejenigen, die auf dem OIZ-Gipfeltreffen immer wieder die Verabschiedung ernsthafter Maßnahmen blockiert haben, wie etwa den algerischen Vorschlag für ein Öl-Embargo gegen Israel sowie ein Verbot der Nutzung des arabischen Luftraums für Waffenlieferungen an den Besatzungsstaat.

Ägypten und Jordanien – langjährige arabische Vasallen der USA – blieben ebenfalls unverbindlich, ebenso wie der Sudan, der sich mitten in einem Bürgerkrieg befindet. Die Türkei unter dem neuen "Sultan" Recep Tayyip Erdoğan hat wieder einmal gezeigt, dass sie nur redet, aber nicht handelt – eine neoosmanische Parodie des texanischen "all hat, no cattle".

BRICS oder IMEC?

Die vier größten Feiglinge verdienen eine nähere Betrachtung. Bahrain ist ein niederer Vasall, der aber eine Schlüsselposition für das US-Imperium der Militärbasen beherbergt. Marokko unterhält enge Beziehungen zu Tel Aviv – es hat sich nach dem israelischen Versprechen, Rabats Anspruch auf die Westsahara anzuerkennen, umgehend verkauft. Außerdem ist Marokko stark vom Tourismus abhängig, vor allem aus dem kollektiven Westen.

Dann gibt es da noch die großen Tiere, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Beide sind vollgestopft mit US-amerikanischen Waffen und beherbergen – wie Bahrain – auch US-Militärstützpunkte. Der saudische Kronprinz Mohammad bin Salman (MbS) und sein früherer Mentor, der Herrscher der Emirate Muhammad bin Zayid (MbZ), rechnen mit der Gefahr von Farbrevolutionen in ihren königlichen Domänen, wenn sie zu sehr vom akzeptierten imperialen Skript abweichen.

Doch in wenigen Wochen, ab dem 1. Januar 2024, werden sowohl Riad als auch Abu Dhabi unter russischer Präsidentschaft ihren Horizont erheblich erweitern, indem sie offiziell Mitglieder der "BRICS 11" werden.

Saudi-Arabien und die VAE wurden nur aufgrund sorgfältiger geopolitischer und geoökonomischer Berechnungen der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China in die Erweiterung der BRICS-Gruppe aufgenommen.

Zusammen mit Iran – zufällig ebenfalls ein strategischer Partner sowohl von Russland als auch von China  – sollen die Saudis und die Emire die energiepolitische Schlagkraft der BRICS-Gruppe verstärken und im weiteren Verlauf eine Schlüsselrolle bei der Abkehr vom US-Dollar spielen, die letztlich darauf abzielt, den Petrodollar zu umgehen.

Gleichzeitig wird man in Riad und Abu Dhabi aber auch von dem nicht ganz geheimen Plan aus dem Jahr 1963 profitieren, den Ben-Gurion-Kanal vom Golf von Akaba bis zum östlichen Mittelmeer zu bauen, der – welch ein Zufall – ganz in der Nähe des heute verwüsteten nördlichen Gazastreifens ankommt.

Der Kanal würde es Israel ermöglichen, zu einem wichtigen Energietransitknotenpunkt zu werden und den ägyptischen Suezkanal zu verdrängen, und das passt gut zur Rolle Israels als faktischer Schlüsselknotenpunkt im jüngsten Kapitel des Krieges um neue Wirtschaftskorridore: für den von den USA ausgeheckten Wirtschaftskorridor Indien-Nahost-Europa (India-Middle East-Europe Economic Corridor: IMEEC).

IMEEC ist ein ziemlich perverses Akronym, ebenso wie die ganze Logik hinter diesem fantastischen Korridor, der darin besteht, das völkerrechtswidrige Israel als wichtigen Handelsknotenpunkt und sogar als Energielieferanten und Umschlagplatz zwischen Europa, einem Teil der arabischen Welt und Indien zu positionieren.

Das war auch die Logik hinter der UN-Scharade des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu im September, als er der gesamten "internationalen Gemeinschaft" seine Karte des "Neuen Nahen Ostens" zeigte, auf der Palästina bereits völlig ausradiert war.

All dies setzt voraus, dass der IMEEC und der Ben-Gurion-Kanal gebaut werden, was nach realistischen Maßstäben wohl eher nicht der Fall sein wird.

Doch zurück zur Abstimmung in der OIZ: Die US-Lakaien Ägypten und Jordanien – zwei Länder an Israels West- bzw. Ostgrenze – befanden sich in der schwierigsten Position von allen Teilnehmern. Der Besatzungsstaat Israel wollte etwa 4,5 Millionen Palästinenser endgültig in ihre Gebiete abdrängen. Doch Kairo und Amman, die ebenfalls mit US-Waffen überschwemmt und finanziell völlig bankrott sind, würden die US-Sanktionen nicht überleben, wenn sie sich zu sehr den Palästinensern zuneigten.

Letztendlich haben also zu viele muslimische Staaten, die ihre Demütigung der Rechtschaffenheit vorzogen, in sehr engen, pragmatischen, nationalen Interessen gedacht und gehandelt. Die Geopolitik ist erbarmungslos. Es geht nur um natürliche Ressourcen und Märkte. Wenn man das eine nicht hat, braucht man das andere, und wenn man keines von beiden hat, diktiert ein Hegemon, was man haben darf.

Die Protestierenden auf arabischen und muslimischen Straßen – und die globale Mehrheit – mögen sich zu Recht niedergeschlagen fühlen, wenn sie sehen, dass diese "Führer" nicht bereit sind, die islamische Welt zu einem echten weiteren Pol der Macht in der gerade entstehenden multipolaren Welt zu machen.

Anders würde es nicht gehen. Viele wichtige arabische Staaten sind heute keine souveränen Gebilde. Sie sind alle eingezwängt und Opfer ihrer Vasallenmentalität. Sie sind – noch – nicht bereit für eine Nahaufnahme im Angesicht der Geschichte. Und leider sind sie immer noch Geiseln ihres eigenen "Jahrhunderts der Demütigung".

Der demütigende Gnadenstoß kam von keinem Geringeren als dem Völkermörder, von Tel Aviv selbst: Der drohte allen in der arabischen Welt, wenn sie nicht den Mund halten würden – was sie aber nun bereits getan haben.

Natürlich gibt es in Iran, Syrien und Palästina, im Irak, im Libanon und im Jemen sehr wichtige und tapfere arabische und muslimische Herzen. Auch wenn sie bei Weitem nicht die Mehrheit bilden, spiegeln diese Akteure des Widerstands die Stimmung auf der Straße wie kein anderer wider. Und da Israels Krieg jeden Tag ausgeweitet wird, steigt ihr regionaler und globaler Einfluss ins Unermessliche weiter, genauso wie in allen anderen regionalen Kriegen des Hegemonen.

Ein neues Jahrhundert wird in der Geburtsstunde abgewürgt

Das katastrophale Debakel des Projekts Ukraine und die Wiederbelebung eines unlösbaren westasiatischen Krieges sind eng miteinander verwoben.

Hinter dem Nebel der "Besorgnis" in Washington, D.C. über den völkermörderischen Amoklauf von Tel Aviv verbirgt sich die entscheidende Tatsache, dass wir uns mitten in einem Krieg gegen die "BRICS 11" befinden.

Das Imperium verfolgt keine Strategie, sondern erstellt bestenfalls taktische Geschäftspläne im Eilverfahren. Es gibt zwei unmittelbare Taktiken: eine US-Armada im östlichen Mittelmeer – in einem gescheiterten Versuch, die Widerstandsriesen Iran und Hisbollah einzuschüchtern – und ein tatsächlicher Wahlsieg von Javier Milei in Argentinien, was mit dessen erklärtem Versprechen verbunden ist, die Beziehungen zwischen Brasilien und Argentinien abzubrechen.

Dies ist also ein gleichzeitiger Angriff auf "BRICS 11" an zwei Fronten: in Westasien und in Südamerika. Die USA werden nichts unversucht lassen, um zu verhindern, dass sich "BRICS 11" der "OPEC+" annähert. Ein Hauptziel ist es, Riad und Abu Dhabi Angst einzujagen, wie Quellen unter den Geschäftsleuten am Persischen Golf bestätigen.

Selbst den Vasallenführern auf der OIZ-Show dürfte klar gewesen sein, dass wir uns nun mitten in der Phase "Das Imperium schlägt zurück" befinden. Das erklärt auch weitgehend ihre Feigheit.

Sie wissen, dass für den Hegemon "Multipolarität" gleich "Chaos" ist, seine Unipolarität dagegen "Ordnung" bedeutet und schädliche Akteure "Autokraten" sind – wie etwa die neue russisch-chinesisch-iranische "Achse des Bösen" und jeder, insbesondere unter den Vasallen, der sich der bisherigen "regelbasierten internationalen Ordnung" widersetzt.

Und das bringt uns zu einer Geschichte vom Waffenstillstand an zwei Fronten. Dutzende Millionen Menschen der globalen Mehrheit fragen sich, warum der Hegemon verzweifelt um einen Waffenstillstand in der Ukraine bemüht ist, während er einen Waffenstillstand in Palästina rundheraus ablehnt.

Das Einfrieren des Projekts Ukraine bewahrt das Gespenst der Hegemonie nur ein kleines bisschen länger. Nehmen wir an, in Moskau würde man den Köder schlucken (wird man nicht). Um dann aber den Konflikt der Ukraine in Europa einzufrieren, braucht der Hegemon einen Sieg Israels im Gazastreifen – vielleicht sogar um jeden Preis –, um auch nur einen Rest seines früheren Ruhms zu bewahren.

Aber kann Israel einen größeren Sieg erringen als die Ukraine? Tel Aviv könnte den Krieg am 7. Oktober bereits verloren haben, da es seine Fassade der Unbesiegbarkeit nie wieder herstellen kann. Und wenn sich dies in einen regionalen Krieg verwandelt, den Israel verlieren wird, werden die USA über Nacht ihre arabischen Vasallen verlieren, die heute alle schon mit einer chinesischen und russischen Option in den Startlöchern sitzen.

Das Gebrüll auf den Straßen wird lauter – und fordert, dass die Biden-Administration, die jetzt öffentlich als Komplize von Tel Aviv gilt, den israelischen Völkermord stoppt, der zu einem Weltkrieg führen könnte. Doch in Washington wird man dem nicht nachkommen. Die Kriege in Europa und Westasien könnten die letzte Chance sein (die man verlieren wird), das Entstehen eines wohlhabenden, vernetzten, friedlichen eurasischen Jahrhunderts zu verhindern.

Übersetzt aus dem Englischen, erschienen bei The Cradle.

Pepe Escobar ist ein unabhängiger geopolitischer Analyst und Autor. Sein neuestes Buch heißt "Raging Twenties" (Die wütenden Zwanziger). Man kann ihm auf Telegram und auf X folgen.

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